999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
das Wissen, über das ich heute verfüge – aber ihr wacher Geist leuchtete, wie der reinste aller Smaragde –, denn sie waren der Wahrheit ganz nah, für die ich heute kämpfe und verfolgt werde. Ein weiteres Mal wollen sie nun aber verhindern, dass diese Wahrheit verbreitet wird.«
»Woher wisst Ihr diese Dinge?«, de Mola schaute ihn an wie ein Gespenst. Dann lächelte er und reichte Giovanni die Hand. »Ich bin einer der Nachkommen derjenigen Ritter, die ihrem Glauben nicht abschwören wollten und dafür verfolgt und ermordet wurden. Und ich werde weiter meiner Aufgabe treu ergeben bleiben. Der Tempel wird nie vergehen.«
»Viele Dinge wisst Ihr aber immer noch nicht, Ferruccio. Mir wurde ermöglicht, diese religiösen Fragen zu studieren – weil man mir eine neugierige Natur, Begabung und ein außergewöhnliches Gedächtnis nachsagt. Ich habe nie den Verleumdungen geglaubt, die die Auflösung des Ordens Eurer Vorfahren zur Folge hatten. Es war nur die Angst vor ihrer Macht und ihrem Wissen – die auri sacra fames – und natürlichdie abscheuliche Geldgier ihrer Gegner, die das Ende der Hüter des Tempels besiegelten.«
»Jetzt verstehe ich, warum sie Euch suchen, Graf«, sagte de Mola mit einem leichten Lächeln um die Lippen, »und ich wünsche, dass Ihr nicht so endet wie mein Vorfahre.«
Giovanni schaute ihm in die Augen. »Das ist noch nicht alles«, sagte er leise.
»Reicht das noch nicht?«, antwortete de Mola und strich sich über seinen Kinnbart.
»Eigentlich schon, aber das, wofür sie mich suchen, geht noch einen Schritt weiter. Ich habe Euch von meinem ersten Buch erzählt, dessen Thesen bereits von den Tempelrittern und den Lehrern der anderen Religionen vorweggenommen und diskutiert worden waren. Ich habe die Gedanken der Tempelritter weitergedacht. Darum verfolgt mich der Papst, aber wenn er erst den Inhalt von diesem Manuskript kennen würde, hätte er mir schon alle Dämonen seines kirchlichen Infernos auf den Hals geschickt.«
»Ich habe keine Angst vor Dämonen, ich habe schon viele von ihnen getötet«, sagte de Mola mit fester Stimme. »Erzählt mir die ganze Geschichte, wenn es Euch beliebt.«
Rom
Donnerstag, 6. Januar 1487
Zwei ganze Tage und Nächte hatte Papst Innozenz VIII., der 213. Papst, Nachfolger des heiligen Petrus und Hüter der Christenheit, sein Schlafgemach nicht mehr verlassen. Er hielt keine Messe, gewährte keine Audienzen und verweigerte sich sogar der Schönheit der jungen Adriana de Mila, einer Cousine Kardinal Borgias, der sich grämte, weil er sie dem Papst persönlich geschenkt hatte. Auf dem großen Eichentisch hatte der Pontifex alle Blätter ausgebreitet, die ihm sein Sohn Cristoforo übergeben hatte. Er hatte jedes Wort und jeden Satz der Ultimae Conclusiones sive Theses Arcanae IC , der letzten neunundneunzig Konklusionen oder Geheimen Thesen des Giovanni Pico Graf von Mirandola , genauestens studiert. Wieder und wieder hatte er jeden Verweis, jede Aussage und jeden Gedanken gelesen. Müde, aber mit lichtem Blick in seinen weit aufgerissenen Augen hatte Innozenz am dritten Tag seiner selbst gewählten Klausur endlich die vollständige Bedeutung der philosophischen Aussagen erfasst. Und was er gelesen hatte, erfüllte ihn mit größerer Angst, als würde er das Inferno mit eigenen Augen ansehen müssen oder seine totgeborenen Bastarde aus ihren Gräbern auferstehen, Rom von den Sarazenen belagert oder ein Piratenschiff die Engelsburg angreifen sehen.
Er hatte die Apokalypse vor sich. Die Thesen Mirandolas waren das Erdbeben, das die Säulen, auf denen die Autorität der Kirche seit fast eintausendfünfhundert Jahren ruhte, hinwegfegen würde. Jede Seite der Ultimae Conclusiones war eine Schlangengrube, und die Kirche konnte jederzeit hineinstürzen.
Die Intention von Graf Mirandola war ihm nun vollkommen klar: Die neunhundert Thesen waren das trojanische Pferd, mit dem er die anderen neunundneunzig der Welt zugänglich machen wollte – ein einfacher, aber genialer Plan. Er, Innozenz, würde jedoch nicht tatenlos zusehen, wie das mächtigste Imperium auf Erden mutwillig zerstört wurde, nein: Er würde nicht als letzter Papst in die Geschichte eingehen! Das Geheimnis der Kirche, das seit über tausend Jahren von seinen Vorgängern beschützt und gehütet wurde, würde nicht enthüllt werden, das schwor er sich. Er hielt die Schlüssel des heiligen Petrus, und auf diesem Fundament war die Kirche erbaut worden.
Zweifel und Unwissenheit machen
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