AAA - Das Manifest der Macht
Tassen Kaffee zu sich, doch wenn er mal frühstückte, dann musste es richtig sein. Dann brauchte er Rühreier, Speck und Würstchen, dazu Toast, Erdnussbutter und – wenn möglich – Pfannkuchen. Bei solchen Anforderungen konnten das dunkle, trockene Brot, die kleinen Brötchen und die Erdbeermarmelade, die ihnen die Wirtin hingestellt hatte, nicht mithalten. Aber wenigstens gab es Butter. John hatte Samantha bei ihrem Kaffeekonsum stumm beobachtet, während er sich eine Scheibe Brot dick mit Butter bestrich.
„Also“, wiederholte er, „wie hast du geschlafen?“
„Sieht man das nicht? Ich muss doch Augen haben wie ein Albino-Kaninchen!“ Sie nippte wieder an der Tasse.
„Na ja.“ John musterte Samanthas Augen eine Weile konzentriert wie bei einer ärztlichen Untersuchung.„Leicht gerötet sind sie. Schätze, du hast wirklich die ganze Nacht in den alten Blättern gelesen.“
„Nicht die ganze Nacht, nur bis vier.“ Sie gähnte ausgiebig. „Aber die paar Stunden Schlaf, die ich danach noch genießen durfte, waren einfach zu wenig.“
„Ist bei deiner Marathonlesung wenigstens etwas herausgekommen?“
„Also, zunächst einmal: Die Briefe sind hochinteressant. Sie müssen von jemandem geschrieben worden sein, der sich über Jahre hinweg in unmittelbarer Nähe der Familie von Karl Marx bewegt oder in anderer Weise mit den Marx’ in enger Beziehung gestanden haben muss. Wer das war, weiß ich nicht. Nirgendwo ist der Name des Verfassers oder des Absenders verzeichnet, was für Briefe eigentlich ungewöhnlich ist.“
„Und weiter?“ John biss von seinem Marmeladenbrot ab und verzog angewidert das Gesicht.
„Die ersten Briefe stammen aus der Mitte der 1850er-Jahre, und sie reichen bis in die Anfänge der 1880er, und die darin enthaltenen Schilderungen gehen sehr ins Einzelne: Geburten, Familienfeiern, was es da zu speisen gab, Krankheiten, finanzielle Sorgen und Tod aller Söhne. Eine wahre Fundgrube für Historiker und Marx-Biographen.“
Sie griff nach einem Brötchen und begann, es aufzuschneiden.
„Samantha, spann´ mich nicht länger auf die Folter. Hast du irgendetwas gefunden, was auf meine Abstammung hindeuten könnte?“
„Ehrlich gesagt, nicht das Geringste. Alles ist so, wie du es bereits überall im Netz nachlesen kannst, nur eben mit viel mehr persönlichen Details.“
John zuckte mit den Schultern. „Ich habe es immer gesagt. Die ganze Geschichte basiert auf reiner Spekulation. Jemand führt dich an der Nase herum.“
„Glaube ich nicht, ich gehe weiterhin davon aus, dass die Einladung an deinen Vater von 1954 echt ist … oh, hallo, Ben. Auch schon wach?“
„Schon seit sechs Uhr.“
Ben setzte sich zu den beiden an den Tisch und zog die Kaffeekanne zu sich heran.
„Mein Zimmer geht zur Straße hinaus, die haben zu nachtschlafender Zeit irgendwas mit dem Traktor gemacht.“
Er goss sich Kaffee ein, dann schaute er erstaunt hoch.
„Was ist los, Leute? Gibt’s was Neues vom Ur-Urgroßvater?“
„Nichts Neues“, grinste John, „außer, dass er nicht mein Ur-Urgroßvater ist, falls du gerade von Karl Marx gesprochen hast. Ich sehe schon die große Schlagzeile: Sensationsjournalistin fällt auf getürkte Story herein.“
„Jetzt reicht’s mir aber!“
Samantha knallte ihre Tasse so fest auf den Tisch, dass der Kaffee auf das geblümte Tischtuch spritzte, und sprang von ihrem Stuhl auf.
„Du sagst, ich habe mich täuschen lassen? Ich sage dir: An der Sache ist was dran, und ich will rausfinden, was es ist. Es ist zu viel passiert, als dass ich jetzt aufgebe. Und noch eins sage ich dir: In diesen alten Briefen ist auch immer wieder von einem Schatz die Rede, umfangreicher und wertvoller, als sich irgendein Mensch das vorstellen kann. Ich glaube, dass deine Abstammung – ob nun von Karl Marx oder nicht von Karl Marx – ein Fliegendreck gegen das ist, was wir vielleicht noch entdecken werden. Wenn du nach Hause fliegen willst, John, dann flieg’ nach Hause, ich halte dich nicht. Ich mache auch allein weiter. Ich bekomme meine Story, du wirst sehen! Auch wenn sich gerade alles anders entwickelt, als wir es geplant hatten.“
Ben hatte sich gleich zu Anfang von Samanthas Wutausbruch vor Schreck an seinem Kaffee verschluckt und kämpfte verzweifelt mit einem fürchterlichen Hustenanfall. John sah Samantha einige Sekunden lang mit offenem Mund an, denn eine solche Schimpfkanonade hatte er von ihr nicht erwartet.
„Alles okay mit dir?“, fragte er und fuhr
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