Ab ins Bett!
sagt sie, »tun die Arme nicht weh.«
Wir haben Nick gerade durch die Tür und in den Flur geschafft, als er wach wird. Und zwar hellwach, so als hätten die Pillen das Niemandsland zwischen Schlafen und Wachen weggefegt. Ich meine, als ich vor einem Moment hinsah, schlief und schnarchte er noch fest, und plötzlich starrt er mich an, als hätte ihm jemand Guaraña ins Gesicht gespritzt.
»Love is like oxygen«, singt er in voller Lautstärke und schaukelt seinen Körper im Rhythmus zur Musik. » You get too much, you get too high — not enough and you’re gonna di-ie.«
Dann sackt ihm der Kopf auf die Schulter, und er schläft wieder ein. Dina, die aus meinem Schlafzimmer gekommen ist, guckt mich mit strengem, fragendem Blick an, wie eine Lehrerin, die eine Erklärung fordert.
»Ein Song von den Sweet«, gebe ich sie ihr.
Zwei Sekunden, nachdem wir Nick voll angezogen auf sein Federbett gelegt haben - wieso ist er bloß so steif? fragt Fran gerade besorgt —, klingelt es an der Tür.
»Wer zum Teufel ist denn das jetzt?« sage ich und verlasse Nicks Schlafzimmer, während meine Hoffnungen für den Abend schneller zerplatzen als die Hindenburg. Als ich mich der Haustür nähere, erkenne ich die sich im Licht der Scheibe brechenden Umrisse — einen klobigen dunklen Klotz und eine schimmernde Gerte.
»Hallo«, zwitschern Ben und Alice im Chor, als ich aufmache. Alice, die einen langen roten Rollkragenpullover und eine schwarze Lederjacke trägt, beugt sich vor und küßt mich auf die Wange, und obwohl mir die gequältesten Gedanken durch den Kopf wirbeln, finde ich, wie im Reflex, noch ein Eckchen darin, wo ich die Berührung ihrer Lippen auf meiner Haut speichere. Sie schwebt an mir vorbei auf die Treppe zu. Ben, der eine in blaues Seidenpapier eingewickelte Weinflasche in der Hand hält, macht Anstalten, mich auch zu küssen, aber ich hebe den Arm, um das zu verhindern.
»Was ist passiert?« frage ich.
»Wie bitte?«
»Warum seid ihr hergekommen?«
»Na, das ist ja wirklich ’ne überschwengliche Begrüßung, Gabe«, sagt er und geht in den Fußstapfen seiner Frau an mir vorbei. »Dina hat uns eingeladen.«
»Was?« sage ich.
»Ich habe angerufen...«
»Wann?«
»Ungefähr vor einer Stunde. Ich wollte dich eigentlich bloß erinnern, daß der zweite Artikel bis Freitag fertig sein muß. Und da schlug Dina vor, daß wir vorbeikommen. Hat sie dir nichts davon gesagt?«
»Nein.«
»Na ja, und ich fand es eine gute Idee. Spricht ja nichts dagegen, daß wir uns ab und zu mal als Vierer treffen. Jedenfalls klang sie, als läge ihr ungeheuer viel daran, daß wir kommen.«
»Ach wirklich?«
»Ja. Ich glaube, so eindeutig hat sie sich noch nie über was geäußert.«
Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Als wir oben in der Wohnung ankommen, steht Fran im Flur und lächelt wieder.
»Hallo«, sagt sie und macht ihre übliche Handdrehung, ehe sie meinem Bruder den Arm hinstreckt. »Du mußt Ben sein. Ich bin Fran.«
Er nimmt ihre Hand und lächelt verdutzt.
»Haben wir nicht eben miteinander telefoniert?« sagt sie. »Übrigens, Gabriel, du mußt dich unbedingt mal drum kümmern, daß jemand nach eurer Leitung sieht.«
»Scotland Yard!«
»Monopoly!««
»Das verrückte Labyrinth!«
»Die Siedler von Catan!«
»Risiko!«
»Flugdeck.«
Eins ist eine universell gültige Wahrheit: Wenn drei oder mehr Leute über fünfundzwanzig einen Abend zusammen verbringen, fangen sie an irgendeinem Punkt an, die Brettspiele ihrer Kindheit aufzuzählen. Entweder das, oder sie versuchen, ihr Kollektivgedächtnis an die Erkennungsmelodien der verschiedenen Kinderfernsehprogramme aus den 70ern zu mobilisieren.
»Flugdeck?« fragt Dina verächtlich.
»Ja«, sage ich ziemlich hochmütig, da es das einzige Spiel ist, das ich anführte (wobei ich mir im Geiste das gesteppte Dinner-Jackett anzog). »Seiner Zeit weit voraus. Ein Flugsimulator.«
»O ja«, sagt Ben. »Ich erinnere mich. Ununterbrochen hast du damit gespielt.« Er guckt die beiden nichthäßlichen Schwestern an. »Mum und Dad waren total entnervt, weil...«, jetzt wieder an mich gewandt, »...du dafür immer dieses riesenlange Seil, oder war es ein Draht, durch den Flur spannen mußtest, weißt du noch?«
»Genau«, sage ich. »Und dann segelte das Flugzeug den Draht entlang zu einer kleinen Modellrollbahn, und ich lenkte das Ganze mit einem kleinen Plastiksteuerknüppel.«
Nachdem klar war, daß Ben in Wirklichkeit mit Fran und nicht mit Dina
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