Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
hereinstürmten, lag Linus laut lachend auf seiner Pritsche. Er fand das unglaublich komisch. Inzwischen aber hatte sich der Übermut, der aus Eierlikör und Selbstüberschätzung entstanden war, in einen gewaltigen Kopfschmerz gewandelt. Als niemand mehr auf sein Bitten und Klopfen reagierte, hatte er sich hingesetzt, war zur Ruhe gekommen und hatte versucht, Edda zu kontaktieren. Ohne Angst. Einfach so. Zu seiner Überraschung war es ihm gelungen. Ob der Schmerz in seinem Kopf dazu beigetragen hatte, konnte Linus nicht mehr herausbekommen. Der Kontakt zu Edda brach ab, als drei Hooligans zu ihm gesperrt wurden.
„Mitkommen!“, sagte die Polizistin. Als Edda nicht reagierte, packte sie die Beamtin am Arm und führte sie hinaus. Über den neonbeleuchteten Gang brachte man Edda aus dem Gebäude. Sie spürte, wie Sorge in ihr aufstieg. Was war mit Simon und Linus? Waren sie noch in ihren Zellen? Edda versuchte, Kontakt zu Linus aufzunehmen. Es gelang ihr nicht. Sie wurde einfach weitergestoßen in den Innenhof. Hier stand ein VW-Bus der Polizei bereit. Die Polizistin bugsierte Edda auf die Rückbank, verschloss den Wagen und fuhr los. Durch die nächtliche Stadt.
Noch immer regnete es. Doch langsam mischten sich Schneeflocken dazwischen und klatschten gegen die Scheiben des VW-Busses. Edda schaute hinaus. Ganz Berlin war bunt beleuchtet mit Girlanden, Sternen und Weihnachtsbäumen. Kinder liefen an den Händen der Eltern von Schaufenster zu Schaufenster. Edda schnürte es bei dem Anblick den Hals zu. Sie erinnerte sich, wie sie seit ihrer Rückkehr aus Indien jedes Jahr mit Marie zu Weihnachsteinkäufen nach Hamburg gefahren war, immer am zweiten Samstag im Advent. Sie erinnerte sich, wie glücklich sie an der Hand ihrer Großmutter durch die Stadt gelaufen war. Randvoller Wünsche.
„Wo bringen Sie mich hin?“, fragte Edda noch einmal.
„Heim“, sagte die Polizistin knapp.
Für einen Moment spürte Edda Wärme in sich. Die Hoffnung, dass man sie tatsächlich heimbringen würde. Zu Marie, zu dem gemütlichen Haus am Meer. Aber ihr war klar, dass das für lange Zeit passé war. Und vielleicht nie mehr ihr Zuhause sein würde.
Die Polizistin bog vom Kurfürstendamm ab Richtung Norden. Nach stillen zwanzig Minuten kamen sie zu einem grauen Gebäude. Ein paar Lichterketten in den Fenstern versuchten, weihnachtliche Stimmung zu erzeugen. Edda sah ein paar Kindergesichter hinter den Scheiben. Ihre Blicke verfolgten sie, bis sie mit der Polizistin im Hof des Gebäudes verschwunden war. Der Regen war vollkommen in Schnee übergegangen und eine zarte, weiße Schicht bedeckte schon die wenigen Spielgeräte in dem Hof. » Josephinum « las Edda über der breiten Eingangstür. Das war das, was die Polizistin mit „ Heim “ gemeint hatte.
Der süße und trotz allem saubere Geruch nach Kinderschweiß. Das Quietschen der Kreide auf den kleinen Tafeln. Die ersten Versuche, Buchstaben festzuhalten, Zahlen. Später Wörter, Sätze. Erinnerungen. Gedanken. Edda betrat das Gebäude und erinnerte sich sofort an das erste Jahr in der Grundschule. Das Jahr, in dem sie glücklich war. Das Jahr, in dem ihre Mutter sie zwang, mit ihr nach Indien zu gehen. Die Härte, mit der sie damals aus ihrem Glück geholt wurde, glich der Härte, mit der Edda nun in dieses Heim gebracht wurde. Die Polizistin ließ sich von einer Angestellten schriftlich bestätigen, dass sie Edda abgegeben hatte, und verschwand wieder. Edda blieb zurück in dem Büro des Heims.
„Kommt gleich jemand ...“ Ohne Edda Beachtung zu schenken, tippte die Angestellte weiter in einen altmodischen Computer ein. Dann schaute sie auf und sah Edda unschlüssig stehen. „Fröhliche Weihnachten“, wünschte ihr die Frau. Es klang vollkommen arglos und war wohl als Trost gemeint. Für Edda aber klang es hämisch.
Vor dem Heim hockte der hagere Mann in seinem Kombi. Er hatte telefoniert. Es gab ein Problem. Er hatte gemeldet, dass es nun schwierig, nein, unmöglich sein werde, ein Auge auf alle drei Kinder zu haben.
„Bleiben Sie an Edda dran“, lautete die Antwort. „Sie ist das Zentrum. Das Mädchen wird sie wieder zusammenführen.“
| 2217 |
Linus brummte der Schädel. Olé, olé, olé oléoléolé ... Die alkoholisierten Hooligans feierten unermüdlich den Sieg ihrer Mannschaft bei der Hertha.
„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“, grölten sie ohne Unterlass, weil sie als Underdog die Berliner aus dem Pokal geworfen hatten.
„Ihr seid in
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