Abbau Ost
vorerst neueste Schlagwort im Verbalgerangel um die ostdeutsche Wirtschaftsmisere lautet Clusterförderung. Dahinter verbirgt
sich ein rein theoretischer Ansatz, wie der dahindümpelnden ostdeutschen Wirtschaft zu mehr Dynamik verholfen und damit die
Katastrophe für das wiedervereinigte Deutschland doch noch abgewendet werden könnte. Wirtschaftswissenschaftler beschreiben
mit Cluster (Haufen) das Phänomen, dass ein Großteil der Weltproduktion bestimmter Waren an wenigen Standorten erzeugt wird.
Fortschrittliche Hörgeräte beispielsweise kommen zum großen Teil aus der Umgebung von Kopenhagen. Keramische Fliesen stammen
mit großer Wahrscheinlichkeit aus Sassuolo in Italien oder aus dem spanischen Castellón. Chirurgische Instrumente werden zu
einem großen Teil im baden-württembergischen Tuttlingen und in Sialkot in Pakistan hergestellt. Aus wirtschaftswissenschaftlicher
Sicht sind Cluster geografisch konzentrierte Ansammlungen von Unternehmen der gleichen und eng verwandter Branchen. Dabei
bilden sich Unternehmensnetzwerke |133| und eine sich gegenseitig verstärkende Wirtschaftsdynamik heraus. Hierarchische Strukturen würden die Eigendynamik nur behindern,
die Entstehung von Clustern ist sozusagen ein ungeordnet vor sich gehender Prozess. Zulieferbetriebe entstehen, Bildungs-
und Forschungseinrichtungen siedeln sich an, Manager gründen eigene Unternehmen, und alle profitieren von der geografischen
Nähe. Ein regionaler, auf engstem Raum stattfindender Wettbewerb, sichert das hohe, die Weltspitze verkörpernde Produktionsniveau.
Dabei ist umstritten, ob die Bildung solcher Unternehmensnetzwerke durch staatliche Subventionen begünstigt und vorangetrieben
werden kann oder sich die üblichen, von Behörden eingesetzten Steuerungsinstrumente nicht als hinderlich erweisen.
Was aber hat der sogenannte »Aufbau Ost«, bei dem es zunächst einmal um die Wiederbelebung einfachster regionaler Wirtschaftskreisläufe
geht, mit Clusterförderung zu tun? Genau genommen gar nichts. Der Begriff erfährt vielmehr eine missbräuchliche, in Beamtenstuben
erdachte Abwandlung und meint nicht länger das Phänomen geografisch konzentrierter Wettbewerbszentren, sondern beschreibt
eine neue Strategie zur Verteilung staatlicher Fördergelder. Statt, wie die Beamten sagen, »in die Fläche zu subventionieren«
oder Fördergelder nach dem »Gießkannenprinzip« zu verteilen, sollen in Ostdeutschland künftig nur noch »Wachstumskerne« oder
»Cluster« gefördert werden, damit die knapper werdenden Subventionen überhaupt noch spürbare Effekte auslösen und nicht auf
dem ostdeutschen Lande versickern. Bei diesen so genannten Wachstumskernen handelt es sich im Wesentlichen um ebenjene Regionen,
in denen sich bereits die TLG Immobilien GmbH engagiert, nämlich den Großraum Berlin, den Großraum Halle-Leipzig und die Achse
Dresden – Chemnitz – Erfurt – Eisenach. In Wahrheit verbirgt sich hinter dem Schlagwort das Eingeständnis, dass Ostdeutschland,
abgesehen von einigen kleinen Wachstumskernen (Clustern), aufgegeben werden muss. Clusterförderung ist die gesellschaftliche
Sanktion fortschreitender Abwanderung und der Verelendung weiter Landstriche und der dort noch ausharrenden Menschen. |134| Es gibt keine Hoffnung, der Osten ist, abgesehen von wenigen Wirtschaftsstandorten, abgeschrieben.
Die aktuelle Debatte zeigt ebenso wie schon die vorangegangenen eine große Ratlosigkeit. Niemand kennt das Rezept, das dem
Osten verordnet werden müsste, damit das Anfang der 90er Jahre entstandene Siechtum überwunden werden kann. Nicht einmal Krieg,
Demontage und Jahrzehnte sowjetischer Vorherrschaft konnten diesen Landstrich in der Mitte Europas wirtschaftlich derart schädigen
wie eine Währungsumstellung und die stumpfsinnige Umsetzung einer Reihe weiterer, parlamentarisch abgesegneter Regierungsbeschlüsse.
Die Zahl der Erwerbstätigen in Ostdeutschland sank innerhalb eines halben Jahres nach der D-Mark-Umstellung von 9,31 Millionen
auf 8,05 Millionen, um rund 1,1 Millionen. Ein Jahr nach der Währungsumstellung, im Herbst 1991, hatte die Zahl der Erwerbstätigen
bereits um 2,23 Millionen abgenommen. Die Industrieproduktion sank gegenüber 1989 binnen zweier Jahre auf 31 Prozent. Zum
Vergleich: In Tschechien brach die Industrieproduktion bis 1993 auf 78 Prozent ein, in Ungarn auf 79 Prozent. Doch während
es in den früheren Ostblockstaaten wieder aufwärtsgeht, ist die
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