Abbild des Todes
einen Konkurrenten bekommen.”
“Joe?” Ray schüttelte den Kopf. “Versteh mich nicht falsch, Joe Santos ist ein feiner Kerl und er scheint meine Tochter sehr zu lieben. Wenn ich jedoch darüber nachdenke, was ich in den letzten Jahren über Angie gelernt habe, ist sie eine Frau, die das Unerwartete, Unvorhersehbare liebt. Genau wie du ist auch sie impulsiv, teilweise rastlos. Joe ist das Gegenteil. Er geht seinen Weg und er folgt den Anweisungen. Ich weiß nicht, ob er jemals in seinem Leben etwas auch nur entfernt Spontanes getan hat. Deshalb wird Angie ihn niemals so lieben, wie sie dich geliebt hat.”
“Sie hat sich weiterentwickelt, Ray.”
“Sechs Jahre sind vergangen, und sie ist immer noch allein. Was sagt dir das?”
“Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie noch einmal enttäuschen möchte.”
“Wieso glaubst du, dass du das tun würdest?”
“Weil vielleicht noch zu viel von dem alten Rick in mir ist, von dem Vor-Vaughn-Rick. Der Stammbaum ist nicht so erstklassig, weißt du.”
“Ich weiß, dass du eine traurige Kindheit hattest.”
Rick starrte in sein Bier. “Ja, ich denke, so könnte man das ausdrücken.”
“Wenn du reden möchtest … ich bin ein guter Zuhörer.”
Aus Gründen, die er sich selbst nicht erklären konnte, fiel es Rick seltsam leicht, mit diesem Mann zu reden. “Mein Vater verließ meine Mutter, als sie schwanger wurde. Sie hat ihn nie wiedergesehen. Dann hat meine Mom angefangen zu trinken. Sie verlor ihren Job, konnte die Miete nicht mehr bezahlen und ist schließlich abgehauen. Ohne mich.”
“Wie alt warst du da?”
“Zehn. Damals wurde ich in das Pflegeprogramm aufgenommen. Ich hasste es – ich hasste meine Pflegefamilie, und sie hassten mich. Ich war noch in drei weiteren Familien. Doch alle waren vollkommen ungeeignet und völlig überfordert mit der Aufnahme eines verstörten Kindes, das vom Staat in ihre Obhut gegeben worden war. An meinem dreizehnten Geburtstag bin ich in einen Spirituosenladen eingebrochen. Der Richter hat mich vor die Wahl gestellt – Jugendarrest oder eine neue Pflegefamilie. Der Gedanke, mich wieder mit einer Familie arrangieren zu müssen, gefiel mir zwar nicht besonders, aber er schlug die Alternative ‘Jugendarrest’ um Längen. Wie sich herausstellte, waren die Vaughns geduldige, liebevolle und herzliche Menschen. Das mussten sie sein, um es überhaupt mit mir aushalten zu können.”
“So schlimm kannst du doch gar nicht gewesen sein.”
“Ich habe mich langsam gebessert. Meine Noten wurden besser, ich schloss Freundschaften. Ich habe sogar die Aufnahme in das Football-Team geschafft.”
“Und danach hast du dich bei den Marines gemeldet, dich später für die Offiziersschule beworben und bist angenommen worden. Warum bist du nicht hingegangen?”
“Ich wollte kein Offizier sein. Ich wollte ein normaler Marine sein, einer von den Jungs, weißt du. Ich wollte meine Bewerbung gerade zurückziehen, als Simon starb und mir das
Blue Moon
hinterließ.”
“Du hättest jemanden engagieren können, der es für dich leitet.”
Seine Kumpel bei den Marines hatten ihm das Gleiche gesagt. “Ich habe damals darüber nachgedacht, aber Simon lag sehr viel an dem Club. Und zu wissen, dass er mir – und nur mir – vertraute und mir zutraute, ihn weiterzuführen, berührte mich mehr, als ich sagen kann. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen.”
“Und du hast es gut gemacht.”
Rick blickte dem älteren Mann in die Augen. Es gab nur zwei weitere Leute, die über sein früheres Leben Bescheid wussten – Lenny und Zoe. “Danke.” Er trank sein Bier aus. “Wo wohnst du?”
“Im
Select
– Zimmer 123.”
“Ich lass dich wissen, wie Zoe die Neuigkeiten aufgenommen hat.”
“Was denkst du, wie sie reagiert? Du kennst sie besser als ich.”
Rick lachte. “Wenn es eines gibt, das ich während meiner zweijährigen Ehe mit Zoe gelernt habe, dann ist es, niemals versuchen zu wollen, vorherzusagen, wie sie auf irgendetwas reagiert.”
24. KAPITEL
S eit über einer Stunde saß Zoe wie auf heißen Kohlen in ihrer Wohnung. Wieso dauerte das so lange? Warum rief Rick nicht wenigstens an? Endlich hörte sie ein leises Klopfen und lief schnell zur Tür, um zu öffnen. Rick trat ein, ohne ein Wort zu sagen.
“Und?” Sie folgte ihm ins Wohnzimmer.
“Erst einmal: Der Mann will dir nicht schaden.”
“Das hast du bereits gesagt.”
“Ich weiß. Ich versuche nur Zeit zu schinden.”
“Erzähl’s mir
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