Abbild des Todes
Ein Hausmeister hat ein Auge darauf und kümmert sich um alles, wenn Gary nicht da ist. Im Sommer kommt er zweimal die Woche, im Winter seltener.”
Sie ahnte, worauf er hinauswollte. “Mein Vater wird also den Hausmeister spielen?”
“Es ist das perfekte Szenario. Ich habe Bert kennengelernt. Er und dein Vater haben das gleiche Alter und eine ähnliche Statur. Ray wird da sein, wenn wir kommen, und im Garten arbeiten.”
“Haben wir einen Grund, dort hinzufahren?”
“Den haben wir, aber er erfordert ein wenig schauspielerisches Talent von deiner Seite.”
Sie erinnerte sich an das, was er vor ein paar Tagen über “realistisch wirken” gesagt hatte. “In welcher Hinsicht?”
Das kleine Funkeln, das sie so gut kannte, glitzerte wieder in seinen Augen. “Wir müssen so tun, als ob du und ich wieder … nun ja, wieder zusammen sind, oder zumindest auf dem besten Weg dahin.”
“Ist das notwendig?”
“Falls – und ich stimme zu, dass es ein großes ‘Falls’ ist – Frank Scolini dich immer noch beobachten lässt, werden sie sich fragen, was wir zusammen da draußen wollen, nachdem wir schon über sechs Jahre geschieden sind. Wenn wir so wirken, als hätten wir uns wieder verliebt, gibt es keine Spekulationen mehr.”
“Was genau gehört denn zu ‘so tun, als wären wir verliebt’?”
“Oh, ich weiß nicht. Wir improvisieren. Ein bisschen kuscheln sollte aber schon drin sein.” Er versuchte, ernst zu gucken, doch es fiel ihm schwer. “Kommst du damit klar?”
“Dir macht das einen Heidenspaß, oder?”
“Dir auch, glaub mir, dafür werde ich sorgen.”
Solange ihre Gefühle nicht wieder komplett durcheinandergewirbelt würden wie an dem Abend vor ein paar Tagen, als sie kurz davor war, ihn zu küssen …
“Was passiert, wenn wir da sind?”
Er blickte sie eindringlich an. “Wir unterhalten uns kurz mit ‘Bert’, dann sage ich ihm, dass er wegen eines tropfenden Wasserhahns kurz mit reinkommen soll, und mache mich rar.”
Allein mit ihrem Vater. Es wirkte immer noch unmöglich. “Wird er das ganze Wochenende bleiben?”
“Er wollte am Sonntag noch einmal kommen, aber es gibt nicht so viel zu tun. Es könnte verdächtig aussehen. Stattdessen werden wir ein neues Treffen an einem anderen Ort vereinbaren.”
Sie merkte, wie ihre Aufregung wuchs. “Wann fahren wir los? Und wie lange fahren wir?”
“Morgen früh. Ich hole dich gegen neun ab. Wir sollten für die Fahrt nicht länger als eine Stunde benötigen.”
Ray überprüfte noch einmal sein Äußeres und war zufrieden mit dem, was er im Spiegel sah. Früher am Morgen hatte er sich eine Liste mit den Dingen gemacht, die ein Hausmeister wohl an einem so kalten und regnerischen Tag tragen würde, und war anschließend einkaufen gegangen. Zurück im Hotel, hatte er die zwei Nummern zu große dunkelblaue Jeans angezogen, ein graues Sweatshirt und eine Holzfällerjacke. Ein weicher Hut verdeckte sein Haar. Er hatte nun nicht nur keine Ähnlichkeit mit Tony Marcino mehr, sondern sogar die Leute, die ihn als Ray Dougherty kennengelernt hatten, erkannten ihn nicht wieder – so war selbst Lou, an dem er die Verkleidung ausprobiert hatte, bei seinem Anblick erschrocken einen Schritt zurückgewichen.
Ray war nervöser als an dem Tag, an dem Angie geboren wurde. Damals hatte er sich nur gewünscht, ein gesundes Baby zu bekommen. Heute musste er sich jedoch um viel mehr Sorgen machen. Würde sie ihn mögen? Würde sie ihn für seine Entscheidungen verurteilen?
Oder würde sie vielleicht in letzter Sekunde entscheiden, dass sie ihn doch nicht treffen wollte?
Er drehte seinen Kopf und zog den Hut noch ein bisschen weiter ins Gesicht. Die Vorsichtsmaßnahmen waren möglicherweise unnötig, denn er war bereits seit vier Tagen in New York und bisher war nichts passiert. Da er es sich aber zur Regel gemacht hatte, nichts als selbstverständlich zu betrachten, hatte er jeden Tag zweimal beim Portier des Hotels nachgefragt, ob sich jemand nach ihm erkundigt hätte.
Bis jetzt war dem nicht so. Zumindest hatte das der Portier behauptet. Doch in New York City, wie überall auf der Welt, war mit Geld vieles möglich. Er hatte selbst kurz überlegt, sich die Loyalität des Portiers mit einer kleinen Spende zu erkaufen, hatte sich dann jedoch dagegen entschieden, da diese Geste ungewollte Aufmerksamkeit auf ihn richten würde.
Er schob seine Bedenken beiseite. Heute war ein besonderer Tag, ein Tag, von dem er nicht zu hoffen gewagt hatte,
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