Abendruh: Thriller (German Edition)
endete. Dort blieb sie stehen und starrte über das mit Regentropfen getüpfelte Wasser hinweg. Und hoffte, dass Will ihr folgen würde.
Da stand er plötzlich direkt neben ihr. Ein kalter Wind wehte vom See her, und sie schlang fröstelnd die Arme um den Leib. Will schien die Kälte gar nicht zu bemerken, obwohl er nur eine Jeans und ein feuchtes T-Shirt trug, das jede Speckrolle seines schwabbeligen Oberkörpers unvorteilhaft zur Geltung brachte.
»Hat es wehgetan?«, fragte er. »Als er auf dich geschossen hat?«
Automatisch hob sie die Hand und berührte die Stelle an ihrem Schädel. Die kleine Delle, die das Ende ihres Lebens als normales Kind markierte, des Mädchens, das nachts durchgeschlafen und in der Schule gute Noten bekommen hatte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mit meinen Eltern in einem Restaurant gegessen habe. Sie wollten, dass ich etwas Neues probiere, aber ich wollte Spaghetti. Ich habe mich total darauf versteift – Spaghetti, Spaghetti –, und am Ende hat meine Mutter dem Ober gesagt, er soll mir einfach das bringen, was ich wollte. Das ist meine letzte Erinnerung. Dass meine Mom sich über mich geärgert hat. Dass ich sie enttäuscht habe.« Sie wischte sich mit der Hand über die Augen, und ein feuchtwarmer Fleck blieb auf ihrer Wange zurück.
Auf dem Wasser schrie ein Seetaucher – ein einsamer, gespenstischer Laut, der ihr die Tränen in die Augen trieb.
»Ich bin im Krankenhaus aufgewacht«, sagte sie. »Und meine Mom und mein Dad waren tot.«
Seine Berührung war so sanft, dass sie sich nicht sicher war, ob sie es sich nicht eingebildet hatte. Leicht wie eine Feder strichen seine Fingerspitzen über ihre Wange. Sie hob den Kopf und sah in Wills braune Augen.
»Mir fehlen meine Eltern auch«, sagte er.
»Ich finde diese Schule unheimlich«, sagte Jane. »Und die Schüler auch. Sie sind alle irgendwie seltsam.«
Sie saßen in Mauras Zimmer und hatten ihre Sessel dicht an den Kamin gerückt, in dem ein Feuer brannte. Draußen peitschte der Regen an die Fenster, und der Wind rüttelte an den Scheiben. Obwohl Jane inzwischen trockene Sachen angezogen hatte, war die Feuchtigkeit ihr so tief in die Knochen gekrochen, dass nicht einmal die Hitze der Flammen sie wärmen konnte. Sie zog ihre Strickjacke fester zu und blickte zu dem Ölgemälde, das über dem Sims hing. Es zeigte einen Herrn in Jagdkleidung, der mit dem Gewehr über der Schulter stolz neben einem erlegten Hirsch posierte. Männer und ihre Trophäen.
»Es sind die Geister aus der Vergangenheit«, sagte Maura.
»Du sprichst von den Kindern?«
»Ja. Sie sind traumatisiert durch Verbrechen. Durch Gewalt. Kein Wunder, dass sie auf dich seltsam wirken.«
»Wenn man einen ganzen Haufen von solchen Kindern zusammensteckt, von Kindern mit so schweren emotionalen Störungen, dann verstärkt das doch nur ihre Macken.«
»Mag sein«, erwiderte Maura. »Aber es ist auch der einzige Ort, wo sie akzeptiert werden. Wo sie auf Menschen treffen, die sie verstehen.«
Das war nicht die Antwort, die Jane von ihr erwartet hatte. Die Maura, die sie jetzt vor sich am Kamin sitzen sah, schien eine andere Frau zu sein. Der Wind und die feuchte Luft hatten Mauras sonst so tadellos sitzende Frisur zu einer wirren schwarzen Matte zerzaust. Das karierte Baumwollhemd hing ihr aus der Hose, und an den Aufschlägen ihrer Bluejeans klebte getrockneter Lehm. Nach nur wenigen Tagen in Maine hatte sie sich in eine Frau verwandelt, die Jane kaum wiedererkannte.
»Du hast mir doch neulich gesagt, dass du Julian von dieser Schule nehmen willst«, sagte Jane.
»Ja, das habe ich.«
»Und was hat dich umgestimmt?«
»Du siehst doch selbst, wie glücklich er hier ist. Und er weigert sich zu gehen. Das hat er mir gesagt. Mit seinen sechzehn Jahren weiß er schon ganz genau, was er will.« Maura nahm einen Schluck von ihrem Tee und betrachtete Jane durch den aufsteigenden Dampf. »Weißt du noch, wie er damals in Wyoming war? Wie ein wildes Tier, immer in Kämpfe verwickelt, mit diesem Hund als einzigem Freund. Aber hier in Abendruh hat er Freunde gefunden. Hier gehört er hin.«
»Weil hier alle irgendwie seltsam sind.«
Maura lächelte ins Feuer. »Vielleicht ist es das, was mich und Julian verbindet. Weil ich auch irgendwie seltsam bin.«
»Aber im positiven Sinn«, fügte Jane rasch hinzu.
»Inwiefern, wenn ich fragen darf?«
»Du bist hochintelligent. Entschlossen. Zuverlässig.«
»Hört
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