Abenteuer des Werner Holt
riesige Südflanke im Mittelabschnitt, hier, wo sie von Westen dreihundert Kilometer lang nach Osten läuft, ist zwar durch die Pripjet-Sümpfe gedeckt, wo im Sommer kein Mensch Krieg führen kann. Trotzdem ist dieser Bogen mit seiner riesenlangen Front ein weiches Ei, wenn ich mal so sagen darf.«
»Sie dürfen.«
»Tatsächlich haben die Russen nun diesen Frontbogen angegriffen, an vier Stellen, zwischen dem einundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten, hier, beiderseits Witebsk, dann hier bei Orscha, bei Mogilew und schließlich beiderseits Bobruisk. Der Wehrmachtbericht sprach schon nach dem ersten Angriffstag von ›örtlichen Einbrüchen‹, die ›abgeriegelt‹ worden wären. Das hat wohl nur bis zum nächsten Morgen gestimmt. Nehmen wir als Beispiel die beiden Einbrüche nördlich und südlich Witebsk: am einundzwanzigsten begann dort der Angriff, spätestens am dreiundzwanzigsten waren die Russen an beiden Stellen durch die deutsche Front gebrochen und am vierundzwanzigsten müssen sich beide Stoßkeile vereinigt haben. Daß Witebsk trotzdem noch tagelang im Wehrmachtbericht genannt wurde, der übliche Kram mit schweren Abwehrkämpfen und so, das beweist, daß …« Wolzow zögerte.
»Na, was denn?« fragte Gottesknecht.
»Herr Wachtmeister, wenn die Russen schon im Vormarsch weit nach Westen sind und östlich davon im Raum Witebsk schwere Kämpfe gemeldet werden, dann nenne ich das einen Kessel.«
Schweigen. Gottesknecht riß ein Streichholz an und rauchte.
»Die Falle um Witebsk ist zu«, fuhr Wolzow fort. »Die Russen stoßen so rasch nach Westen vor, daß mir ganz mulmig ist! Dasselbe muß sich im Angriffsraum Orscha–Mogilew abgespielt haben: es hieß ›örtliche Einbrüche‹, einen Tag später fallen Namen von Orten, die viel weiter westlich liegen. Am schlimmsten aber sieht es hier aus: der Stoß auf Bobruisk muß mit unheimlicher Wucht geführt worden sein. Ich hab besonders aufgepaßt, wann die Russen nördlich Bobruisk den Dnepr erreicht haben. Es klingtwie ein Witz, Herr Wachtmeister, aber die Russen müssen tatsächlich gleichzeitig mit unseren Divisionen über den Fluß gegangen sein! Jedenfalls gibt es zur Zeit zwischen Mogilew und Beresino Abwehrkämpfe, während im Raum Mogilew, Orscha und Bobruisk noch gekämpft wird; dort scheint der größte Kessel entstanden zu sein.« Wolzow legte den Zirkel hin und stützte beide Hände auf den Tisch. »Orscha ist gefallen, Mogilew und Bobruisk sind abgeschnitten. In dem tiefen Raum zwischen dem Dnepr und der Beresina operieren die Russen. Sie müssen jeden Tag die Beresina erreichen. Offenbar haben sie Bewegungsfreiheit, während im Norden die Front von Narwa bis Polozk frei in der Luft hängt, mit offener Südflanke. Die nördlich Witebsk durchgebrochenen Keile brauchen nur nach Norden einzudrehen, um Polozk zu umgehen, wenn sie nicht etwas anderes im Schilde führen, nämlich in einer weiten Umfassungsbewegung den ganzen Mittelabschnitt bis Minsk einzuschnüren und dabei möglichst rasch zur ostpreußischen Grenze durchzustoßen.«
Gottesknecht war sehr ernst, als er fragte: »Und was ist da zu tun?«
Wolzow begann zu grinsen. »Eine Prüfungsfrage für’n Generalstäbler ist das, Herr Wachtmeister! Nach den klassischen Regeln der Kriegskunst gilt noch immer der Satz, unter allen Umständen eine Umklammerung durch den Feind zu vermeiden. Ich würde versuchen, auf der Linie Minsk–Sluzk eine neue Front aufzubauen.«
Gottesknecht betrachtete lange die Karte; dann sagte er, ohne den Blick zu heben: »Da käm Ihre neue Front aber schon verdammt nahe an Ostpreußen heran!«
Wolzow hob die Schultern. »Vor der Linie Dünaburg–Minsk– Sluzk, da geh ich jede Wette ein, bringt die Russen kein Mensch mehr zum Stehen!«
Gottesknecht setzte seine Mütze auf, rückte sie umständlich zurecht und sah Wolzow mit einem dunklen Blick an. »Sie haben doch Vertrauen zur Führung, Wolzow?« fragte er.
»Jawohl, Herr Wachtmeister!«
Gottesknecht klopfte mit dem Knöchel hart auf den Tisch. »Ich würde nicht gar zu oft solche ›Lagebesprechungen‹ abhalten! Ichempfehle Ihnen dringend, in unerschütterlichem Vertrauen auf unseren Führer zu blicken, besonders immer dann, wenn Ziesche im Zimmer ist. Haben Sie mich verstanden?«
»Jawohl, Herr Wachtmeister!«
»Großartig! Na, Holt, und Sie? Was hocken Sie denn auf einmal so traurig in der Ecke?« Er wandte sich an Wolzow. »Sehen Sie sich mal Ihren Freund an! Ich bin ja Psychologe genug, um zu wissen,
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