Abenteuer des Werner Holt
weit östlich liegenden Räumen. Die Zahl der Einflüge und der eingesetzten Maschinen nahm zu. Die Luftkämpfe am Tag ließen langsam nach, die Stunde kam, da Wolzow sagte: »Sie haben die Luftherrschaftüber dem Reichsgebiet!« Eines Nachts schossen sie mehr als hundert Gruppen; anschließend schleppten sie Munition, bis sie vor Erschöpfung taumelten. Da war es Gomulka, der in einem Koller von Wut Ziesche anschrie: »Ich denke, durch ›unsere verbissene Abwehr‹ haben die Bomber den Atem verloren, was?«
Optimismus und Begeisterung gehörten vollends der Vergangenheit an, als eine Nachricht, erst als Gerücht durchgesickert, dann bestätigt, die Jungen in Furcht versetzte: Nördlich Recklinghausen, auch bei Duisburg und Dortmund waren Flakbatterien bombardiert worden. Pfadfinder hatten am hellichten Tage das Batteriegelände mit Rauchzeichen abgesteckt und die Bomber in mehreren Wellen ihre Last auf die Kanonen geschüttet.
»Wir kommen auch dran!« sagte Gomulka. Holt hatte Angst. Die Alarmglocke jagte ihm einen Schauer der Furcht über den Rücken. Erst wenn die Kanonen losdonnerten, wurde er ruhiger. Ich muß die Angst unterkriegen, ich muß! Nach einiger Zeit sagte er sich: Ich werde nicht schlimmer versagen als alle anderen. Auch die anderen haben Angst.
Ziesche hörte dreimal wöchentlich die Kommentare Hans Fritzsches und versuchte anschließend, die Jungen mit neuen Argumenten von besserer Führung und kommender Stunde aufzupulvern. Wolzow stand unterdessen nachdenklich über der Karte. »Großoffensive im Osten«, sagte er. »Männer, da ist was los!« Seine Gelassenheit wurde Holt unheimlich.
Ziesche hatte Ausgang, Rutscher und Vetter spielten mit Kirsch in der Kantine Skat. Wolzow holte seine Landkarten aus dem Spind. Holt sprang in einem plötzlichen Entschluß vom Bett und fragte mit gespielter Gleichgültigkeit: »Was gibt’s Neues?« Gleich war auch Gomulka da.
»Es sieht ernst aus!« sagte Wolzow. »Die Halbinsel Cotentin ist in amerikanischen Händen.« Er faltete die Karte von Frankreich auseinander. Holt verfolgte die Zirkelspitze, mit der Wolzow nun auf Cherbourg tippte, und sagte erleichtert: »Das ist die Halbinsel Cotentin? Aber das ist ja nur ein ganz kleines Stück von Frankreich!«
»Es ist immerhin ein strategischer Raum«, erklärte Wolzow. »Jetzt können sie sich einen großzügigen Aufmarsch leisten. Doch das alles ist noch recht harmlos, wenn man’s mit der Ostfront vergleicht.«
»Sieht’s dort so böse aus?« fragte Holt bedrückt.
Wolzow schnob durch die Nase. Er legte die Karte von Osteuropa auf den Tisch. Da öffnete sich die Tür. Gottesknecht trat ein. »Weitermachen!« Er sah sich prüfend in der Stube um. »Die Herren bei der Lagebesprechung, wenn ich mich nicht irre? Na, Wolzow, auf Ihre Lagebeurteilung bin ich gespannt! Schießen Sie los.«
Wolzow schaute Gottesknecht mit schräggelegtem Kopf an, als wolle er sagen: Du hast mir gerade noch gefehlt! Dann meinte er zögernd: »Aber ich muß mir das alles rekonstruieren, das ist gar nicht so einfach.« – »Rekonstruieren? Wie meinen Sie das?« – »Na, eben zusammenbasteln. Der Wehrmachtbericht gibt ja keinen Überblick. Da wird hier mal ’n örtlicher Einbruch, dort eine Absetzbewegung gemeldet und ab und zu ein paar Ortsnamen. Bloß die Kommentare im ›Völkischen‹ verraten was davon, wie’s wirklich aussieht, da muß man sich ein Bild von den Geschehnissen zusammenstückeln.«
»Also stückeln Sie«, sagte Gottesknecht. »Lassen Sie hören! Aber wenn Sie Unsinn reden, gibt’s Mangelhaft!«
»Bis zum 20. Juni«, begann Wolzow, »stand die deutsche Front etwa folgendermaßen: von der Schwarzmeerküste westlich Odessa über Jassy zu den Karpaten, nach Norden über Brody bis zum Pripjet. Dort schloß sich der Mittelabschnitt als ein dicker Bogen an, der etwa dreihundert Kilometer nach Osten verlief, den Pripjet entlang, dann nordöstlich bis Rogatschow und Shlobin, nun im Bogen über den Dnepr nach Norden und zurück aufs westliche Dneprufer, um Witebsk vorgebuchtet, dann ein Stück zurück nach Westen bis Polozk. Dort schloß sich der Nordabschnitt an, dessen Front steil nach Norden bis zum Peipus-See und weiter bis Narwa führte.« Er zeigte den Frontverlauf auf der Karte. »Wenn ich mir diesen Frontbogen angeschaut habe, ist mir ganz komisch geworden, weil man ja in jedem Lehrbuch der Strategieund Taktik nachlesen kann, daß solche Frontbögen fast immer ins Auge gehn, siehe Stalingrad! Die
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