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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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so unterm Nabel …«
    Holt lag unbeweglich. Die Erinnerung kehrte zurück. Die letzte Wache im Dorf. Der Kampf um die Schule. Die Slowakin. Das RAD-Lager. Gundel. Die Feuernacht in Wattenscheid. Er schloß die Augen.
    »Ja, weiter!« sagte Meier.
    »Du legst dich nie auf die linke Seite, merk dir das, weil es da noch schlimmer weh tut! Du ziehst das rechte Bein an, weil das den Schmerz erleichtert, und wenn sie dir’s gewaltsam ausstrecken, dann stöhnst du und ziehst es gleich wieder an. Verstehst du?«
    Ich hab es gesucht, das … Abenteuer, dachte Holt. Nun darf ich nicht jammern und klagen, auch wenn ich darin umkomm. Aber ich hab es mir anders gedacht: reinigend, befreiend, und heroisch … nicht so sinnlos. Langemarck, wie es in den Lesebüchern stand, war immer das Ideal, singend für Deutschland in den Tod zu stürmen … Alle die Bücher fielen ihm ein, er sah eine Seite mit gotischen Lettern aufgeschlagen vor sich: »… halbaufrecht emporgeworfen die Handgranate mit einem Jauchzen in das Maschinengewehrnest schleudernd … im Schwung noch von der Kugel getroffen und niedersinken mit dem letzten Gedanken: … Deutschland … Nahm den bitteren Kelch mit stolzem Heldenlachen …«
    Lüge! Die Bücher haben alle gelogen.
    »Links tut’s nicht weh, beim Drücken, aber rechts … Dann drückt er dir den Bauch ganz langsam tief rein, auch auf der rechten Seite, und läßt plötzlich los … da schreist du Au! Und wenn er wieder reindrückt, da merkst du nichts, aber wenn er wieder losläßt, dann stöhnst du, was du kannst …«
    Die Erinnerung an die Kindheit war heute klarer als sonst. Da bin ich noch nicht zehn gewesen, da haben wir Krieg gespielt. Ich hab gesagt: Wenn ich groß bin, dann will ich auch in den Krieg! Nun hab ich, was ich mir wünschte.
    »… damit das Blutbild stimmt, mußt du zwanzig Minuten vor der Blutentnahme die ganze Butter auffressen, so schnell du kannst. Schaffst du das?« – »Ich denke doch«, sagte Meier. »Mal so richtig Butter essen, warum nicht?«
    Aber die Erwachsenen haben es zugelassen! Die haben mich hineingetrieben. Sieh dir den Werner an, der wird bestimmt einmal ein tapferer Soldat! Ich bin nicht schuld, ich wußte es nicht besser. Die Erwachsenen hätten es besser wissen müssen. Sie haben mich mit schönen Sprüchen auf den Weg geschickt, auf diesen Weg.
    »Und wenn du alles richtig machst, dann müssen sie dich operieren, und kein Mensch kann dir was beweisen!«
    Holt drehte das Gesicht zum Fenster. Das Laub in den Baumwipfeln färbte sich braun. Wolzows Geschwätz drang immer wieder in sein Bewußtsein. Am Morgen, als er erwacht war, hatte er geglaubt, ihm sei die Flucht geglückt. Aber das Leben folgte ihm nach. Es folgte ihm in Wolzows Gestalt, das Leben, der Krieg. Wenn ich nicht wieder aufgewacht wär, dachte er, dann wär jetzt alles vorbei. Es war gar nicht schlimm. Es war schön. Nur die Angst ist schlimm, vorher, aber das Sterben ist sanft.
    Wolzow wiederholte seine Anweisungen und paukte sie Meier ein. »Am besten, wir machen’s gleich heute abend«, sagte Meier, »weil du mir da noch helfen kannst!«
    Holt hörte nicht hin. Er hatte keine Schmerzen mehr. Die Benommenheit war gewichen. Ein Gefühl der Gelöstheit und der Ruhe überkam ihn. Die Ereignisse des letzten Jahres zogen wie Bilder an ihm vorbei, Ereignisse, die jedes für sich nicht viel mehr als einen Schock, vielleicht sogar nur ein Erschrecken bedeutet hatten, doch nun, da er sie überschaute, waren sie ineinandergeschmiedet wie die Glieder einer Kette, und diese Kette band ihn an das Leben und gab ihn nicht frei.
    Es begann mit der Marie Krüger, dachte er. Bis dahin war alles leicht und klar. Als sie mir das von Meißner gesagt hat, da fing es an. Dann, in den Bergen, hat einer erzählt, wie man in der Ukraine Vieh requiriert und einen Bauern samt Familie erschossen hat. Dann Uta: Es ist ja doch alles umsonst! Dann Frau Ziesche und die unbeschreiblich dreckige Arbeit ihres Mannes. Dann Vater: … tötet die SS in den polnischen Konzentrationslagern Hunderttausende … Dann die Russengeschichte in der Batterie. Dann die Nacht in Kutscheras Baracke. Dann Gundels Schicksal. Dann die Slowakin. Dann die Sägemühle.
    Ich weiß alles. Kommunisten werden hingerichtet, Juden mit Giftgas erstickt, Kriegsgefangene geschlagen und zu Tode gehungert, Polenkinder ins Reich verschleppt, Ukrainer ins Ruhrgebiet deportiert, junge Mädchen erschossen, Partisanen zu Tode gefoltert. Ich weiß es. Ich hab

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