Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
Klarste Sicht lässt mich 100 km, 200 km oder gar noch weiter hinaus blicken. Welch ein süßer Lohn! Ich klopfte mir innerlich auf die Schulter, alles richtig gemacht zu haben, als ich mein Zimmer bezog.
Im „meinem“ Schlafraum lagen zwei müde Pilger auf ihren Betten, einer von ihnen mit geschätzten 20 kg Übergewicht belastet. Puh, der hat was zu tragen. Er schaute genervt, als ich den Raum betrat. Wortlos begab ich mich an die Wäsche und gönnte mir die erfrischenden Wasserstrahlen der Dusche. Keine halbe Stunde später saß ich mit einem Bier in der Hand auf der breiten Panorama-Terrasse und dankte der Welt, dass sie so gut zu mir ist. Die Herberge scheint fest in deutscher Hand zu sein. Zumindest war bisher kaum eine andere Sprache zu hören. Die Kontakte zu den übrigen Pilgern sind sehr oberflächlich. Sie haben genug mit sich selbst zu tun, sind alle erst heute gestartet. Viel Reden ist hier sowieso überflüssig. Schweigen und genießen reicht völlig aus.
Um 19:30 Uhr wurde Abendessen serviert. Um die 30 Mitpilger versammelten sich an der langen Tafel. Es war ein lautes Gebrabbel, man stellte sich einander vor. Bei den meisten regiert die nervöse Vorfreude auf das gerade begonnene Abenteuer. Einige haben schon Pilgererfahrung und sind entsprechend unaufgeregter. Der pfundige Kerl aus „meinem“ Zimmer blickte weiter missmutig drein. Er fragt sich wahrscheinlich die ganze Zeit, was er sich hier gerade antut. Ein Herr um die 50 penetrierte die um ihn sitzenden Leute mit seinen „Heldengeschichten“. Ein Selbstdarsteller, der wahrscheinlich nur darauf wartet, dass ihm gesagt wird, was für ein toller Hecht er ist. Ungefragt erzählte er von seinen vielen Reisen und Trekkingtouren, die ihn in alle Welt geführt haben. Der Jakobsweg sei da ja nur ein Klacks gegen. Seiner Lautstärke konnte sich keiner entziehen. Es gibt ja Leute, denen hört man gerne zu, man klebt förmlich an ihren Lippen, dieser Mann gehört definitiv nicht dazu. Das entnahm ich auch den Reaktionen und Gesichtsausdrücken zweier junger Damen, die direkt neben ihm saßen und von seinem Redeschwall besonders betroffen waren. Tja, auch solchen Menschen wird man von nun an wohl hin und wieder begegnen auf dem Weg nach Santiago.
Das Essen war übrigens okay, Service und Bedienung jedoch kalt und unfreundlich. Ohne den Ansatz eines Lächelns oder sonstiger freundlicher Gesten versahen die Damen ihren Dienst. Hier wird abgefertigt! Rein, raus, weiter, der Nächste! Auch das ist wohl etwas, an das man sich erst mal wird gewöhnen müssen. Willkommen auf dem Camino Frances!
Nach dem Abendessen nahm ich wieder meinen Platz an der Sonne ein, um das Kapitel Frankreich endgültig zu beschließen. Danke Frankreich! Du hast es mir zu Beginn nicht immer leicht gemacht, hast mich manchmal lästern und schimpfen lassen, teilweise vielleicht auch nicht zu Unrecht. Mehr und mehr durfte ich mit der Zeit aber Deine guten Seiten entdecken. Nette, gastfreundliche Menschen, eine schöne und abwechslungsreiche Natur, tolle Städte, Dörfer, Kirchen und sonstige Monumente einer bewegten, heute noch lebendigen Vergangenheit. Für das durchwachsene Wetter kannst du nichts und auf ein paar Schönheitsfehler verzichte ich hier wohlwollend. Du bist eben Frankreich und ich bin Deutscher. In manchen Dingen sind wir halt verschieden, was ja auch gut so ist. Zusammengefasst war es eine wirklich gute Zeit, die mir viel gegeben hat, und an die ich mich immer gern zurückerinnern werde. Au revoir, France!
Und jetzt also Spanien, ein neuer Weg! Mal schauen, ob ich dort den Kaffee auch in Müslischalen serviert bekomme. Sorry, das musste jetzt noch sein… .
Mit einsetzender Dunkelheit werde ich jetzt den Ort wechseln und mich in meinem Schlafsack vergraben. Die Müdigkeit habe ich mir redlich verdient.
Angenehmer Nebeneffekt am Rande: Durch die letzten 5 km des Tages habe ich schon 300 der insgesamt 1.300 Höhenmeter hinauf zum Col de Lepoeder bewältigt. Wenn das Wetter morgen so wird wie es heute war, dann wird der Rest trotz aller Strapazen sicher großartig.
Innenhof des ehemaligen Klosters von Saint Palais
Letzte Impressionen aus Frankreich…
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Tag 58, Huntto - Aurizberri 26 km
Noch vor Sonnenaufgang war ich hellwach. Der Blick in die von sanften Nebelschleiern umschmeichelten Täler entfachte sofort meine Vorfreude
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