Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
sie mit ihrem Leben sind und, ganz besonders, was sie von uns täglich vorbeiziehenden Pilgern halten, die wir meist in modernster Outdoor- Funktionsbekleidung an ihnen vorbeiziehen. Ich habe keine Ahnung. Zwar sind wir uns gerade physisch sehr nah, und doch sind wir so endlos weit voneinander entfernt. Wir wissen nichts voneinander. Wie schon vor gut einem Jahr in Afrika habe ich auch hier in Galizien das Gefühl, dass wir Menschen auf unterschiedlichen Planeten leben, zumindest in unseren Köpfen.
Der Weg war nicht mehr spektakulär, sondern einfach nur noch schön. Der Reiseführer verspricht, dass sich daran auf den über 100 km bis Santiago nichts mehr ändern wird. Ela und ich nutzten fast jede Möglichkeit zur Einkehr. In Sarria im netten Altstadtgässchen bei Bocadillo und Kaffee, in Barbadelo mitten auf einer grünen Wiese bei kühlem Bier, und in Ferreiros bei noch einem Bier. Hier trafen wir Eileen und Torsten wieder. Die haben gehört, dass kurz hinter León ein 65-jähriger Pilger an einem Herzinfarkt gestorben ist. Tja, der Camino ist eben auch nur das normale Leben, der Tod macht nirgendwo vor uns Menschen halt. Mag es für die Angehörigen noch so unendlich traurig sein, dass ihr Mann, Vater, Bruder (oder was auch immer) nicht mehr lebend nach Hause zurückkehrt, stelle ich mir trotzdem die Frage, ob es für den Mann einen „schöneren“ Tod hätte geben können? Gott hatte anderes mit ihm vor, als ihn den Weg in Santiago beenden zu lassen. Buen Camino, und Ruhe in Frieden! Obwohl keiner von uns den Mann kannte, hat uns die Nachricht berührt. Wahrscheinlich die Verbundenheit unter Pilgern.
Ich entschied mich ganz spontan, heute nicht mehr weiterzugehen, sondern in der benachbarten Herberge zu übernachten. Es war zwar erst 14:30 Uhr, aber mich überkam das Gefühl, den Rest des Tages allein verbringen zu wollen. Mein Gemütszustand hatte leicht melancholische Züge angenommen, die ich gerne ohne
Begleitung „ausleben“ wollte und will . Hier in Ferreiros, dieser Oase mitten im Grünen mit seiner Hand voll Einwohnern habe ich dazu beste Gelegenheit. Ela und den anderen war es erstens zu früh, und zweitens wollten sie in einen Ort mit Infrastruktur. Sie gaben mir Portomarin als ihr Tagesziel an. Wir sind sicher, uns wiederzusehen, daher verabschiedeten wir uns nur kurz voneinander.
Ich bereue meine Entscheidung nicht. Frisch geduscht sitze ich an einem lauschigen Plätzchen, wo mich garantiert niemand stören wird. Die Abgeschiedenheit ist genau das Richtige, was ich für den Rest des Tages brauche. Immer mehr rückt Santiago und das, was danach kommt, in den Mittelpunkt meiner Gedanken. Langsam werde ich mir der Einmaligkeit meiner Pilgerreise bewusst. Ich habe es wirklich bald geschafft, 2.400 km zu Fuß von Köln nach Santiago! Klar, ich wollte es, aber konnte ich deswegen damit rechnen, dass es klappt? Ja und Nein! Einerseits war die Distanz so lang, dass in den ersten Wochen kein Vorankommen zu erkennen war, andererseits habe ich nie ernsthaft Gedanken zugelassen, dass es mir nicht gelingen könnte. Neben dem Weg war immer auch Santiago das Ziel. Aufgeben war nicht! Und seit ich die letzten, versteckt, dafür hartnäckig nagenden Zweifel irgendwo in Frankreich abschütteln konnte, war mir klar, dass nur noch eine Verletzung oder Krankheit in der Lage ist, mich aufzuhalten (was natürlich immer noch passieren kann). Von da an ging‘s und geht’s mir eigentlich nur noch gut. Die Gefühls- und Gemütsschwankungen spielten und spielen sich ausschließlich auf hohem Niveau ab. Ich habe entrümpelt, bin aufgeräumter als zu Beginn meines Weges. Sorgen sind mir zurzeit fremd, ich habe viel Vertrauen gewonnen, in Gott und in mich selbst. Ich weiß, dass ich das schaffen kann, was ich wirklich will, und ich weiß, dass Gott mich dabei unterstützt. Dieses Vertrauen gibt Gelassenheit, Sicherheit, wird mich weiter stärken. Ich weiß aber auch, dass ich weiter viel zu lernen habe. So zum Beispiel, durchdachter zu urteilen, negative Emotionen wie Wut anderen Menschen gegenüber besser zu kontrollieren, und mit meinen subjektiven Urteilen und Betrachtungsweisen immer Raum für Andersdenkende zu lassen. Ich bin zu klein und unwissend, um die Weisheit für mich in Anspruch zu nehmen, jedoch groß genug, um meine eigenen Meinungen und Ansichten zu vertreten. Ich will und werde weiter an meiner Toleranz und Wertschätzung anderen gegenüber arbeiten, Aminata aus Perigeux hat mir da ein
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