Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
verarbeitete die „Begegnung“ bei einem Gang durch den Klostergarten, in dem eine Nachbildung der Grotte von Lourdes nicht fehlen darf. In der Dämmerung erzeugte das flackernde Licht unzähliger Kerzen eine wunderbare Abendstimmung. Keine Touristen oder Wallfahrer, kein Stimmengewirr, nur absolute Ruhe - himmlisch! Und obwohl das Kloster mitten in der Stadt steht, fühlte und fühle ich mich hier weit weg vom weltlichen Geschehen - sehr frei! Es scheint, dass selbst Gott einem hier näher steht, was ich allerdings für Blödsinn halte. Vielmehr ist es wohl die eigene Sensibilität, die einen, mich zumindest, empfänglicher für seine Gegenwart macht. Wie auch immer, auf jeden Fall sind es Erlebnisse wie das von heute oder auch in Vézelay vor einigen Tagen, die den Camino mehr und mehr zu etwas ganz Besonderem machen. „Deus Caritas Est“ - Gott ist Nächstenliebe! Dieser Satz hoch oben auf der Fassade des Hauptgebäudes gibt in so einfacher Form wieder, was von diesem Kloster ausgeht. Schade, dass im „normalen“ Alltag die Nächstenliebe häufig nur noch so wenig Platz hat.
Mein Abendessen nahm ich mit einigen anderen Gästen des Klosters zu mir. Mit am Tisch saß ein Pfarrer aus Belgien, der schon 60 Wallfahrten nach Lourdes geleitet hat. Eine Schwesternschülerin aus Martinique, ein Mann, der sie offenbar besucht, sowie ein belgisches Ehepaar machten die bunte Runde komplett. Es entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, besonders der Pfarrer war ein richtiger Temperamentsbolzen. Als Pilger nach Santiago stand ich eher unfreiwillig im Mittelpunkt des Interesses meiner Tischnachbarn und hatte entsprechend viele Fragen zu beantworten.
Nach dem Essen gingen wir schnell wieder auseinander. Jeder schien sich der besonderen Stille dieses Ortes hingeben zu wollen. So tat auch ich es und ließ den Tag, der völlig unverhofft zu einem ganz speziellen geworden ist, mit einem Spaziergang durch den großen Klostergarten ausklingen.
Schön, hier zu sein... .
Neugierige Blicke
Tag 32, Nevers – Saint-Pierre-le-Moûtier 29 km
Am Frühstückstisch war ich umgeben von Kanadiern. Zwei Männer sind wie ich auf dem Jakobsweg, gehen ihn abschnittweise, wie die meisten Pilger. Dafür müssen sie jedes Mal aufs Neue eine mitunter recht komplizierte Anreise in Kauf nehmen. Bei den anderen Tischnachbarn handelte es sich um zwei Damen (Mutter und Tochter) pakistanischer Herkunft, bereits seit vielen Jahren Wahlkanadierinnen. Sie befinden sich auf einer Reise durch Frankreich zu verschiedenen Wallfahrtsorten, natürlich steht auch Lourdes noch auf ihrem Programm. Die Mutter, selbst mit einem Inder verheiratet, erzählte von den alltäglichen Spannungen zwischen Indien und Pakistan. Durch ihre ungewöhnliche und politisch verpönte Ehe reichen diese Spannungen selbst bis ins weit entfernte Kanada. Besonders, wenn Familienbesuche in ihren Heimatländern anstehen. Nicht selten kommt es vor, dass die jeweiligen Länderbehörden durch Schikanen bei der Visumsvergabe die Reise einzelner Familienmitglieder verhindern. Eine Chance gegen diese Willkür haben sie nicht, darin sind sich Mutter und Tochter einig.
Ich sag‘ nur, Schwachsinn regiert die Welt! Immer wieder werden für verschissene nationale Interessen ganze Völker gegeneinander aufgebracht. Und wofür? Am Ende unserer Tage werden wir doch alle verbuddelt. Spätestens im Tod haben wir nichts mehr von unserer Nationalität! Was soll‘s, ist eh‘ alles nur ein Spiel!
Es war eine angeregte Unterhaltung. Dadurch saß ich viel länger am Frühstückstisch als sonst üblich. Bevor ich aufbrach, nahm ich mir noch Zeit für einen erneuten „Besuch“ von Bernadette. Auch wenn sie Zeit ihres Lebens (körperlich) krank war, ist es, als schwebe ihr (sehr gesunder) Geist bis heute über dem Ort ihrer letzten Ruhestätte. Vielleicht begleitet mich ja ein Teil von ihm auf meinem weiteren Weg… .
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Nachdem ich die Brücke der Loire überquert hatte, warf ich einen letzten Blick zurück auf Nevers. Etwas bleibt! Fast eine Stunde dauerte es, bis ich durch Vororte den Großraum der Stadt hinter mir ließ und die Natur wieder das Bild bestimmte. Meine Gedanken kreisten dabei um „Deus Caritas Est“. Gott ist Nächstenliebe! Wo versteckt sie sich im Alltag so häufig? Die Frage beschäftigte mich eine Weile. Ich dachte in dem Zusammenhang an den Spruch, den ich an der Fassade des Fachwerkhauses in Bad Münstereifel gelesen hatte. „Das Leben
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