Aber dann kam der Sommer
berichteten von meiner freiwilligen Stalltätigkeit. Sie lachten und amüsierten sich, all diese netten jungen Menschen um mich herum, und sie wurden viel freier in ihrem Verhalten mir gegenüber.
„Nun sagen Sie mir doch bitte mal“, wandte ich mich an Frau Volden, „warum sind denn alle jetzt so reizend zu mir? Oder richtiger, warum waren sie vorher so furchtbar kühl und höflich?“
„Weil sie Sie noch nicht kannten. Sie wurden nur als eine von Kollen betrachtet.“
„Ja, ist es denn ein Fehler, daß ich nach Kollen gehöre?“
„Nein, aber Frau Garde und ihre Familie haben sich noch nie – wie soll ich sagen – unter die Einheimischen gemischt.“
Mehr sagte sie nicht. Aber ich dachte an Tante Agnetes freundlich-herablassende Art, in der sie mit den Leuten hier sprach. Und ich konnte mir gut vorstellen, daß Ditlefmann und Christopher mit ph nicht in diesen Kreis paßten.
Mich hatten sie nur in eleganter Sommerfrischlerkleidung, mit Diamantring und Make-up gesehen, oder ich ritt auf Dyveke an ihnen vorüber und hatte sicher sehr snobistisch und überlegen gewirkt.
Wir hatten unsere Schokolade ausgetrunken, und nun sollte getanzt werden. Rune kam auf mich zu.
„Ist es mir gestattet, mit der Melkerin zu tanzen?“
„Wenn es etwas ist, das ich tanzen kann“, meinte ich.
„Ach, es wird schon gehen!“
Es begann mit einem Rheinländer. Den konnte ich glücklicherweise. Aber dann folgten Reigentänze, da wurde es schon schwieriger. Doch Rune hatte sich in den Kopf gesetzt, sie mir beizubringen. Ich gab mir große Mühe, seine Anweisungen rasch zu begreifen, und im übrigen machte ich nach, was ich bei den anderen sah, und – es ging! Ich war schlank und leicht, und jedesmal, wenn Rune mich hochheben mußte, flog ich fast bis an die Decke.
Ich tanzte mit Margits Bruder, mit dem Dorfschullehrer und mit dem würdigen Dorfkrämer, der mich immer so ausgesucht höflich bedient hatte.
Als es elf Uhr war, klatschte der Lehrer in die Hände und rief: „Bevor jeder heimgeht, soll er noch einen musikalischen Genuß bekommen.“
Sigrid Volden ging zum Flügel. Rune folgte ihr. Ich spitzte die Ohren und sperrte die Augen auf. Was kam jetzt? – Nach dem Vorspiel horchte ich noch gespannter auf. Das war doch – ja, gewiß, es war das herrlichste Lied, das ich kenne:
„Nun sehe wieder Berge ich und Täler, Wie einst ich sah in meiner Jugendzeit…“
Ich weiß nicht warum, aber ich fühlte plötzlich einen Kloß in meinem Hals aufsteigen, einen dicken, schweren Kloß. Ich hatte solche Sehnsucht nach Mutti. Ach, wenn sie doch jetzt neben mir säße! Gerade in diesem Augenblick hätte ich so gern ihre Hand gefühlt.
Rune hatte einen wunderbaren Bariton, nicht groß, aber sehr rein und musikalisch.
Unter den Zuhörern war kein Laut, kein Husten, ja nicht das leiseste Räuspern zu hören. Als das Lied zu Ende war, prasselte der Beifall los. Die urwüchsige Landjugend sparte nicht mit Begeisterungsäußerungen.
Zum Schluß dankte der Lehrer den Vortragenden für ihre Darbietungen und uns für unser Kommen. „Und nun“, schloß er, „singen wir zusammen ‚Herrlich ist unsere Erde…’“
Wir erhoben uns. Und es wirkte nicht im mindesten unpassend, daß wir zum Abschluß dieses Festes ein Kirchenlied sangen.
In dieser Nacht schlief ich nicht. Ich lag im Bett und war hellwach. Es nützte ja nichts, das Unangenehme immer wieder beiseite zu schieben. Wie würde Vati gesagt haben?
„Drum herum, sprach der Krumme! Nein, dieses Mal, Peer, Mittendurch – ob auch der Weg noch so schwer!“ Dann stand ich auf und schrieb einen Brief an Roar. Ich schrieb, ich strich aus, ich schrieb von neuem und zerriß es. Ich fing wieder an und warf es ebenfalls weg. Ich versuchte zu erklären und wußte gleichzeitig, daß Roar es niemals verstehen würde. Dann versuchte ich, es in wenigen Zeilen klarzumachen, aber es ging auch nicht. Das, was ich endlich abschickte, war vermutlich auch chinesisch für ihn:
„Lieber Roar!
Nun sei bitte nicht allzu traurig. Ich weiß, daß Du mich liebst, und darum ist es bitter für mich, Dir weh tun zu müssen. Aber, mein lieber Roar, Du weißt und fühlst sicher genau das gleiche wie ich: Wir beide passen nicht zusammen. Du bist ein so netter, anständiger Junge, und ich bin wohl auch kein schlechter Mensch, aber jeder von uns gehört in seine Welt, und so sprechen wir verschiedene Sprachen. Ich bin Dir und den Deinen wesensfremd. Ich glaubte, Dich zu lieben, weil Du immer so
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