Abgehakt
wurde ständig mehr. Kein Wunder. Ihr Chef hatte nun auch Kontakte ins Ausland geknüpft, vor allem Projekte nach Osteuropa. Überall sollten Waren- und Geschäftshäuser aus dem Boden gestampft werden, deren Planung ihre Spezialität war.
Ihr Terminkalender quoll über, und ihr Privatleben lag brach. Die Abende waren kurz, da sie fast täglich zehn und mehr Stunden arbeitete. Ausgepowert teilte sie dann meistens ihre bequeme Couch mit einem Buch oder dem Fernsehprogramm. Dort hätte sie sich am liebsten auch heute niedergelassen.
»Was du brauchst, ist ein Freund, damit sich deine Prioritäten ein bisschen verschieben und du mal was für dich tust, statt für deinen Chef. Der beutet dich doch aus«, riss Kelly sie aus ihren Gedanken.
»Ich tu’ das ja nicht für meinen Chef«, verteidigte sich Anne, »sondern für mein Portemonnaie.« Im Grunde störte sie die viele Arbeit tatsächlich nicht. Sie verdiente sehr gut, und ihr Beruf machte meistens Spaß. Jedes Projekt war eine neue Herausforderung, und sie liebte Herausforderungen ebenso wie das Gefühl, erfolgreich zu sein.
»Trotzdem«, beharrte Kelly, »ist es für eine Frau wie dich gar nicht gut, wenn das Einzige, das dich in den Hintern kneift, dein String ist.«
Widerwillig musste Anne lachen.
Ein vorübergehender Kellner bot ihnen ein Glas Champagner an, das sie bereitwillig nahmen, da der Cocktail viel zu gut und darum viel zu schnell geleert war.
»Das ist Service, herrlich!«, schwärmte Kelly. »Ich kenne niemanden, der seinen Geburtstag so gigantisch feiert. Seit ich die beiden kenne, läuft das nach dem gleichen Muster ab: lange Abendkleider für die Damen, schicke Anzüge für die Herren, Bar, Luxusbuffet, Kellner, die dir jeden flüssigen Wunsch von den Augen ablesen. Es ist einfach genial.«
»Das muss doch Unsummen kosten.«
»Das ist ziemlich sicher. Aber Geld spielt für die beiden keine Rolle. Saskia verdient mit ihrer Boutique sehr gut, und der finanzielle Beitrag, den Mark als Vermögensberater leistet, ist nicht minder gering. Und die kleinen Freuden zwischendurch sponsert Mutti Helga.«
»Mutti Helga?«
»Saskias Mutter«, erklärte Kelly. »Sie bezahlt zwei bis drei Urlaube im Jahr. Da hinten ist sie übrigens.« Sie deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung einer gutaussehenden Frau Anfang fünfzig, die mit einem Glas Champagner in der Hand an einen Baum gelehnt stand.
»Komm, ich stell sie dir vor. Sie ist eine ganz Nette.« Damit hakte sie Anne unter und ging mit ihr auf Helga Wesselmann zu.
Mit einem Lächeln richtete sie sich auf, als sie die Freundinnen auf sich zukommen sah. Helga war mindestens einen Kopf größer als die 1,60 Meter große Kelly. Trotz einiger Falten wirkte sie jugendlich. Und Anne erkannte die gleichen bernsteinfarbenen Augen, die auch Saskia hatte, nur dass sie in Helgas schmalem Gesicht eher traurig wirkten. Neugierig betrachtete sie Anne, als Kelly sie vorstellte. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Im Nu waren sie ins Gespräch vertieft, während Kelly von einem Bekannten an die Bar entführt wurde.
»Sind Sie ohne Begleiter hier?«, wollte Helga wissen.
»Ich bin mit Kelly gekommen. Und Sie?«
Erstaunt über ihre Frage, runzelte Helga die Stirn. »Ich bin allein gekommen. Ich bin schon seit fünf Jahren Witwe.«
»Oh, das wusste ich nicht.« Es war Anne unangenehm, überhaupt danach gefragt zu haben.
»Es muss Ihnen nicht peinlich sein.« Helga lächelte. »Wobei es immer hilft, gut informiert zu sein. Man erspart sich viele unangenehme Situationen. Ich versuche immer auf alles gut vorbereitet zu sein. Allerdings muss ich gestehen, dass ich über Sie nichts weiß, obwohl ich mit Saskia über die Gäste gesprochen habe.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Wohnen Sie auch hier in Wiesbaden?«
»Ja«, antwortete Anne bereitwillig. »Ich habe eine Wohnung in der Eichenwaldstraße. Das ist eine herrliche Wohngegend. Oben auf dem Hügel, den Wald in der Nähe … Ich wohne sehr gerne da.«
»Ja, ich weiß, wo das ist. Hübsch! Wohnen Sie dort mit Ihrem Freund?«
»Nein.« Anne lachte. »Im Augenblick allein.«
Ob sie nicht einsam war, wollte Helga als nächstes wissen. Also erzählte ihr Anne von Kelly und von den Leuten, die bei ihr im Haus wohnten, und dass sie aufgrund ihres Berufs nicht viel Zeit hatte, Freundschaften zu pflegen. Helga war sehr interessiert an allem.
Als Kelly wiederkam, rief Helga ihr zu: »Sie haben eine nette Freundin.«
»Ja, da haben Sie recht«, entgegnete Kelly.
Weitere Kostenlose Bücher