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Schwankungen auf der Erzeugerseite ausgeglichen werden. Und für plötzlich auftretende Stromüberschüsse stehen mehr Ausweichrouten zur Verfügung. Der Vergleich zum Internet liegt nahe: Wenn ich diesen Text meinem Lektor per Mail sende, ist es unmöglich vorherzusagen, über welchen Server er geroutet wird. Nahezu absolut sicher ist aber, dass er ankommt, zur Not über eine Ausweichroute, die von Frankfurt nach Moskau und von dort nach München führt.
Nun unterscheidet sich der Transport von Strom allerdings in einem wesentlichen Punkt vom Datentransfer: Ein gewisser Anteil geht immer verloren, weil die Elektronen selbst in gut leitenden Materialien wie Kupfer immer wieder auf Atomkerne stoßen und dabei einen Teil ihrer Energie verlieren, man spricht vom elektrischen Widerstand. Die Verluste sind spannungsabhängig, bei den 400000 Volt, die im europäischen Höchstspannungsnetz herrschen, verliert man auf 100 Kilometer etwa ein Prozent. Das ist nicht tragisch, wenn der Strom aus dem Kraftwerk des Nachbarortes kommt. Da aber hier auch das Zinseszinsphänomen zuschlägt, ist es nicht wirtschaftlich, mit solchen Netzen Solarstrom aus der Sahara nach Südschweden zu senden, es bliebe wenig übrig. Daher setzt man zunehmendauf Hochspannungs-Gleichstromübertragung (HGÜ), deren Verluste nur etwa drei Prozent auf 1000 Kilometer betragen.
HGÜ-Leitungen sind technisch nichts völlig Neues, die erste ging bereits in den 50er-Jahren in Betrieb. Aber der höhere technische Aufwand, vor allem für die Umwandlung des im Kraftwerk erzeugten Wechselstroms und die abermalige Wandlung vor der Einspeisung in das regionale Netz, hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass nur sehr wenige Leitungen in HGÜ-Technik ausgeführt wurden. Momentan gibt es, neben wenigen ausgeführten Seekabeln, einzelne Projekte, beispielsweise, um das deutsche Netz mit norwegischen Stauseen zu verbinden. Aber wirklich visionär wäre ein Supernetz, das nordeuropäische Wasserkraft, Windparks in Nord- und Ostsee und solarthermische Kraftwerke in Südeuropa und Nordafrika miteinander verbindet.
Die Vision ist nicht abgehoben. Michael Weinhold, Cheftechniker bei Siemens, bestätigt: Die Technik ist vorhanden. Der deutsche Elektrokonzern hat in China bereits eine mehr als 1400 Kilometer lange HGÜ-Leitung einschließlich der zugehörigen Konverterstationen gebaut. Aber derzeit hat der europäische Energiekommissar Günter Oettinger andere Prioritäten. Denn ein wirklich europäischer Energiemarkt existiert noch nicht. Schlichtweg weil die Kuppelstellen, mit denen die Mitgliedsstaaten der EU ihre Netze verbinden wollen, viel zu wenig Durchleitungskapazität haben. Man muss sich das so vorstellen wie zu den Zeiten, als an allen Staatsgrenzen noch Passkontrollen durchgeführt wurden: Auch wenn die Autobahnen vor und hinter der Grenze schnelles Reisen ermöglichen, so steht man, zumindest in der Hauptreisezeit, doch an der Grenze im Stau. Abgesehen davon, dass mindestens 30 weitere Kuppelstellen gebaut werden müssten. Ein vollkommen grenzenloser europäischer Energiemarkt würde, wie jeder Abbau von Handelsbarrieren, zu niedrigeren Preisen führen und damit nicht nur die Verbraucher freuen, sondern deutschen Politiker zusätzliche Kopfschmerzen bereiten. Denn der Abstand zwischen teurem, national erzeugten subventioniertem Ökostrom und dem Marktpreis stiege.
KILOMETERZÄHLER
Auch innerhalb Deutschlands kümmert man sich zunächst um den Ausbau des bestehenden Höchstspannungsnetzes. In welchem Umfang die nach Veröffentlichung der Netzstudie II der DeutschenEnergieagentur dena immer wieder durch die Medien geisternden 3600 Kilometer Hochspannungsleitungen tatsächlich gebaut werden müssen, hängt von vielen Faktoren ab. Eine genauere Lektüre der Studie ergibt folgendes Bild:
Die dena unterstellt, dass die in der ersten Netzstudie, 2005 veröffentlicht, geforderten 850 Kilometer bis 2015 gebaut wurden. Bislang ist davon nur ein kleiner Teil realisiert, macht also deutlich mehr als 4000 Kilometer neue Freilandleitungen.
Außerdem wird angenommen, dass bis 2020 der Stromverbrauch um acht Prozent sinkt und der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung auf 39 Prozent steigt. Dabei handelt es sich vor dem Hintergrund des Atomausstiegs um sehr optimistische Annahmen.
Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass die reale Kapazität der vorhandenen Stromleitungen nicht vollständig ausgenutzt wird, und zwar aus folgendem Grund: Die
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