Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Rechenschaft zu ziehen, in der Zeitung gelesen.
»Und dennoch verdient Ihr Bruder den Schutz des Systems«, ergänzte Ansorge. »Es ist eines der hehren Prinzipien unserer Verfassung, jedem Menschen die bestmögliche Verteidigung zukommen zu lassen.«
»Schön, und unter all diesen schuldigen Menschen, war da auch schon einmal ein Vergewaltiger oder Kindsmörder?«
»Ich müsste erst in meinen Akten …«
»Kommen Sie, Dr. Ansorge. Der beste Strafverteidiger Deutschlands wird doch ein gutes Gedächtnis haben. Nur ein einziger Fall von Vergewaltigung oder Kindesmisshandlung?«
»Ich denke schon, ja. Aber in diesen Fällen habe wir sicher keinen Freispruch erwirkt, sondern nur …«
»… die Wahrheit ans Tageslicht gebracht und darauf gebaut, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Ich weiß.«
Herzfeld sagte es ohne Abscheu. Ohne Widerwillen. Und ohne Ansorge zu verurteilen. Genauso hatte er auch einst gehandelt. Vor der Entführung seiner Tochter.
Er hatte sich an die Spielregeln gehalten und auf das System vertraut. Hatte darauf gebaut, dass es einen Schiedsrichter gab, der die Fakten schon richtig bewerten würde. Und wozu hatte es geführt? Sadler war nach lächerlich kurzer Zeit wieder entlassen worden. Und eine weitere Familie wurde erst ins Unglück gestürzt und dann vollständig ausgelöscht. Zahlreiche Menschen hatten sterben müssen.
»Danke, nein, auch dieses Angebot lehne ich ab.«
Herzfeld stand auf und verließ den Konferenzsaal, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Hey, warten Sie.«
Ingolf eilte ihm nach und stellte ihn im Eingangsbereich. »Sie machen einen Fehler, wenn Sie sich nicht von ihm verteidigen lassen.«
Herzfeld öffnete die Garderobe und nahm seinen Mantel heraus.
»Lassen Sie es gut sein, Ingolf. Sie sind ein netter Kerl. Etwas verrückt vielleicht, aber ich mag Sie, wirklich.«
»Verrückt? Wer von uns beiden ist hier verrückt? Sie haben Ihren Job verloren, man wird Ihnen Ihren Titel aberkennen, Ihr Ruf ist dahin, und dann werden Sie für Jahre eingebuchtet. Ich habe Ihnen gerade einen Weg aufgezeigt, wie Sie das alles abwenden können. Sie verdienen Millionen
und
müssen nicht ins Gefängnis.«
»Das alles ist mir nicht so wichtig, Ingolf.«
»Geld und Freiheit? Was ist denn bitte wichtiger als Ihre Zukunft?«
»Die Gegenwart.« Herzfeld lächelte traurig. »Ich habe erst meine Frau und jetzt auch noch meine Tochter verloren. Ich muss die wenige Zeit, die mir bleibt, nutzen, um zu versuchen, das Verhältnis mit Hannah wieder zu kitten. Die werde ich nicht mit PowerPoint-Präsentationen und Verhandlungsstrategien verplempern.« Herzfeld ging zur Tür, öffnete sie und drehte sich noch einmal um, während er schon im Hotelflur stand. »Kopf hoch, Ingolf. Schauen Sie nicht so. Ich weiß, Sie wollten mir hier etwas Gutes tun. Aber Sie müssen sich nicht revanchieren, nur weil ich Sie aus dem See gezogen habe. Sie haben mir sehr geholfen. Wir sind quitt.«
Er reichte ihm die Hand. »Und machen Sie sich keine Sorgen. Ich hab ja keine Steuern hinterzogen, nur einen Menschen umgebracht. Was soll mir da schon groß passieren?«
Der Rückweg kam ihm nicht mehr so lang vor. Der Teppich weniger dick und die Luft nur halb so duftgeschwängert wie zuvor. Selbst seine Schmerzen schienen nicht mehr so intensiv zu sein, aber Herzfeld wusste natürlich, dass das alles nur Einbildung war. Schon in wenigen Stunden würde ihn der Alarm seiner Armbanduhr an die Einnahme der Medikamente erinnern. Und spätestens, wenn er es gleich noch einmal versuchen und wieder nur Hannahs Mailbox erreichen würde, wäre das momentane Hochgefühl verschwunden. Doch jetzt, in diesem Augenblick, spürte er seit langer, langer Zeit das erste Mal eine vage Hoffnung in sich aufkeimen, dass die Dinge sich ändern könnten. Und tatsächlich hielt das Gefühl eine ganze Weile vor. Vier Stockwerke lang, die gesamte Fahrt mit dem Fahrstuhl bis in die Lobby hinunter, und es war erst wieder verschwunden, als Paul Herzfeld aus dem Hotel hinaus in den Regen trat, um auf dem Bürgersteig mit der anonymen Menschenmasse zu verschmelzen.
Er hat eine Vierjährige missbraucht – und darf weiterhin im gleichen Haus wie sein Opfer leben: Andreas S. wurde zwar in der vergangenen Woche in Dresden zu 22 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Doch die Richter setzten seine Strafe zur Bewährung aus – weil Andreas S.’ Anwälte mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht einen Deal ausgehandelt hatten: Andreas S.
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