Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
Mauervorsprung stand ein schmales, hohes Schränkchen, ein Tabernakel, das offenbar gewaltsam geöffnet und beraubt worden war. Eine niedrige Bank war vor den Schrein gerückt. In dem winzigen halbrunden Raum stand sie so nahe hinter dem Vorhang, dass Otto, der eintreten wollte, zurückfuhr.
Auf der Bank lag sein älterer Halbbruder Thankmar und starrte ihn an.
Es war der stechende Blick, der manchen erschreckt hatte und den Otto nur zu gut kannte. Aber es war eine Täuschung. Niemand hatte dem Leichnam die Augen geschlossen. Auch das vorgeschobene Kinn gab dem Toten den Ausdruck von Vorwurf und Trotz, der für den Lebenden so bezeichnend gewesen war. Die dünnen weißblonden Haarsträhnen klebten an dem länglichen Schädel. Der Leichnam war auf dem Rücken ausgestreckt, die Arme und die mit Bändern umwickelten Beine in Leinenhosen hingen an beiden Seiten der Bank herab. Nur an einem Fuß steckte ein Schuh. Ein |145| großer Blutfleck knapp unterhalb des Gürtels, hatte sich auf der feinen Tunika mit Goldstickerei ausgebreitet. Eine Hand war mit getrocknetem Blut besudelt.
Lange stand der König, den Kopf tief zwischen die massigen Schultern gesenkt, vor der Bank, die schweißfeuchten Hände auf dem Rücken knetend. Hermann Billung, der die letzte Begegnung der Brüder nicht stören wollte, blieb zwei Schritte zurück und beobachtete ihn. Schließlich hielt Otto den Anblick des starrenden Toten nicht mehr aus, drückte ihm die Augen zu und wandte sich ab.
Zurückgekehrt in den Chorraum, hob er den Schuh auf, der neben dem Altar lag, betrachtete ihn, ließ ihn fallen.
„Ist das sein Blut?“, fragte er Hermann Billung, auf die Altardecke und den Teppich deutend.
„Vermutlich. Seines und das des anderen.“
„Wer ist das?“
„Ein gewisser Thiadbold.“
„Der Bastard des Cobbo?“
„Ja. Gefolgsmann Eures Bruders Heinrich.“
„War er es, der ihn getötet hat?“
„Nein. Er hat ihn verwundet, aber den Tod gab ihm der andere. Mit dem Speer, den Ihr dort seht.“
„Der andere?“
„Der mit ihm nach Ingelheim kam und uns zuerst vom Überfall auf Belecke berichtete. Der mit dem Narbengesicht.“
„Du meinst diesen …?“
„Maincia.“
„Der also“, sagte Otto. Er schloss die Augen und seufzte. Dann sah er sich um und bemerkte, dass der Kämmerer Hadalt ihm in die Kirche gefolgt war, in der Nähe stand und ihn ansah.
Rasch wandte er den Blick von ihm ab und fragte den Heerführer: „Wie ging das zu?“
„Nun … als Euer Bruder erkannte, dass alles verloren und die Burg nicht zu halten war, floh er hierher in die Kirche. Er vertraute wohl auf das Asylrecht und dass man es achten würde. Doch wann geschieht das schon mal? Sie berauben die Kirchen, brennen sie nieder … Bei so viel Verwahrlosung konnte er kaum darauf hoffen. Selbst für meine eigenen Leute würde ich mich nicht verbürgen. Doch es waren die Männer Eures Bruders Heinrich. Ihr wisst …“
|146| „Hat jemand gesehen, was vorging?“, unterbrach ihn der König. „Gibt es Zeugen?“
„Einen einzigen gibt es, einen Mönch. Er war hier, als Thankmar hereinstürzte und …“
„Ist es einer von denen?“ Otto deutete auf die vier alten verängstigten Kuttenträger in der Ecke.
„Ja“, sagte Hermann Billung und wandte sich höflich an den Ältesten: „Bruder Dodo, habt die Güte, herzukommen und dem Herrn König zu berichten, was hier geschehen ist.“
Dodo schlurfte herbei und grüßte den König mit einer steifen Verbeugung.
„Du weißt, wer der Mann dort hinter dem Vorhang war?“, fragte Otto.
„Ich weiß es. Er hat es uns oft gesagt. Gott sei seiner armen Seele gnädig.“
„Habt ihr ihn dorthin getragen?“
„Ja. Es ist ein geweihter Raum, wir bewahren dort nach dem heiligen Abendmahl …“
„Berichte!“
Der Alte verbarg die zittrigen Hände in den Ärmeln seiner Kutte. Seine bleichen Lippen bebten noch immer vor Aufregung.
„Es war so … Da draußen kämpften sie noch. Ich eilte hierher in die Kirche und bat unsern Herrn Jesus, er möge die Irregeleiteten …“
„Mein Bruder trat also hier ein.“
„Gleich lief er hierher, zum Altar. Da wo Ihr jetzt steht, fiel er auf die Knie, stieß den Kopf auf den Boden und schrie immer wieder: ‚Es ist aus, es ist aus! Gott, hilf mir! Was soll ich tun?‘ Dann bemerkte er mich und rief: ‚Bin ich hier sicher? Wird Gott mir beistehen?‘ Ich sagte: ‚Ja, ja, gewiss … Wer würde es wagen, im Hause des Herrn …‘“
„Und weiter?
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