Abgründe
Erpressungsopfer geben, darüber weiß ich aber nichts.«
»Was soll das heißen – hattest du vor, diese Sache im Alleingang für deinen Freund zu untersuchen?«
»Ich hatte die ganze Zeit vor, euch darüber in Kenntnis zu setzen. Und das tu ich ja jetzt auch. Es ist überhaupt nichts Schlimmes passiert. Ich wollte nur einen Vorstoß bei Lína und Ebbi machen, bevor das Ganze ausuferte. Hermanns Frau ist in der Politik, soweit ich weiß, und solche Aufnahmen wären natürlich eine Katastrophe für sie. Als ich am Tatort eintraf, lag Lína bereits am Boden, der Täter fiel über mich her und ist dann abgehauen.«
»Und was sagt dieser Hermann?«
»Er streitet ab, irgendetwas mit dem Überfall zu tun zu haben. Ich sehe keinen Grund, zu glauben, dass er lügt, aber ich kann mir natürlich auch nicht sicher sein, dass er die Wahrheit sagt. Der Angreifer kann in eigener Sache unterwegs gewesen sein.«
»Und dann kämen vielleicht auch Leute in Frage, die in derselben Situation sind wie dieser Hermann, Leute, die vielleicht gute Kontakte zu Schuldeneintreibern haben. Meinst du das?«
»Ja. Ich sehe aber keinen Grund, Hermann auszuschließen.«
»Hast du irgendetwas aus Sigurlína herausbekommen, als du bei ihr warst?«
»Nein. Sie lag schon bewusstlos auf dem Boden, als ich eintraf.«
»Und Ebeneser?«
»Angeblich weiß er nichts von der Sache. Er behauptet, keinerlei Bildmaterial dieser Art zu besitzen und keine Ahnung zu haben, weshalb Lína überfallen wurde. Wir sollten ihn gleich morgen früh in die Zange nehmen. Er ist im Augenblick ziemlich labil.«
»Wie bist du bloß auf die Idee gekommen, uns das vorzuenthalten?«
»Ich … Es war ein Fehler. Ich wollte euch nichts vorenthalten.«
»Nein, genau, und deshalb hast du den Privatdetektiv gespielt. Findest du das normal?«
»Seit ich hier bei der Kriminalpolizei angefangen habe, hat es keinen einzigen normalen Tag gegeben.«
»Du weißt, dass ich das melden muss. Noch besser wäre es, wenn du es selber tun würdest.«
»Mach, was du willst. Ich habe die Ermittlungen nicht behindert, und ich bin auch nicht befangen.«
»Nicht befangen? Bist du nicht daran interessiert, deinen Freund zu decken?«
»Es hat überhaupt nichts mit ihm zu tun.«
»Also, jetzt mach aber mal einen Punkt«, sagte Finnur. »Weshalb hat er dann mit dir geredet? Hör auf damit, mach es nicht noch schlimmer. Er hat mit dir geredet, weil er selber bis über die Ohren drinsteckt, und es geht ihm darum, eine offizielle Ermittlung zu vermeiden. Er nutzt dich aus, Siggi, raff das doch endlich!«
Finnur stürmte aus Sigurður Ólis Büro und knallte die Tür hinter sich zu.
Als Sigurður Óli abends in seine Wohnung kam, schaltete er nicht wie gewöhnlich den Fernseher ein, sondern ging in die Küche, bereitete sich ein Sandwich zu, holte sich eine Orangenlimonade aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentisch. Es war schon nach Mitternacht, und in dem Haus, in dem noch fünf andere Parteien lebten, herrschte tiefe Stille. Seit seinem Einzug hatte er noch nicht einen einzigen seiner Mitbewohner kennengelernt. Wenn es nicht zu umgehen war, grüßte er, aber irgendwelche Kontakte darüberhinaus vermied er, so gut er konnte. Wenn es nicht direkt mit seiner Arbeit zusammenhing, hatte er kein Interesse daran, mit Unbekannten zu reden. Trotzdem wusste er, dass außer ihm in dem Haus drei Familien mit Kindern, ein älteres Ehepaar und ein Junggeselle lebten. Der arbeitete in einer Reifenwerkstatt, denn er war ihm einmal in einem Overall der Firma begegnet. Der Mann hatte auch einige Versuche unternommen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, hatte ihn ein paarmal im Hausflur gegrüßt und sogar einmal an einem Samstagnachmittag bei ihm angeklopft und gefragt, ob Sigurður Óli ihm etwas Zucker leihen könnte. Sigurður Óli war wie immer auf der Hut und hatte erklärt, keinen Zucker zu besitzen. Als der Mann daraufhin ein Gespräch über englischen Fußball anzuknüpfen versuchte, hatte Sigurður Óli die Tür halb zugezogen und gesagt, er sei beschäftigt.
Während der Mahlzeit kreisten Sigurður Ólis Gedanken um Patrekur und Hermann und das, was Finnur gesagt hatte. Und auch der Penner, der ihn nach Erlendur gefragt hatte, fiel ihm ein. Er konnte sich an Andrés erinnern, er hatte seinerzeit etwas besser ausgesehen, obwohl er als Säufer auch damals keine Zierde der Gesellschaft darstellte. Seinerzeit lebte er in einem Mehrfamilienhaus, wahrscheinlich in einer Sozialwohnung. Ganz in
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