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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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der Nähe war ein thailändischer Junge erstochen aufgefunden worden, festgefroren in seinem Blut. Es war damals bitterkalt in Reykjavík gewesen. Man hatte alles darangesetzt, den Fall aufzuklären, und Andrés war einer von den vielen gewesen, mit denen die Polizei gesprochen hatte. Er war schon oft mit dem Gesetz in Konflikt geraten, wegen Diebstahls und Körperverletzung. Man hatte ihn zwar zur Vernehmung bestellt, aber er galt als unzuverlässig und spinnert. Eine Bedrohung ging nach Meinung der Polizei nicht von ihm aus.
    Und nun, zu Beginn des Herbstes, war er plötzlich wie ein Gespenst aus dem Dunkel auf dem Hof hinter dem Hauptdezernat aufgetaucht. Sigurður Óli hatte keine Vorstellung, was ihn dazu trieb und was er von ihm wollte. Einen Augenblick lang bedauerte er es, ihm die Tür vor der Nase zugemacht zu haben.
    Aber nur einen Augenblick.

Fünfzehn
    An dem Tag, nachdem er in die Stadt gekommen war, wachte er auf dem Sofa im Wohnzimmer auf. Er war wohl in der Küche eingeschlafen, und jemand musste ihn dorthin getragen und aufs Sofa gelegt haben. Er brauchte eine ganze Weile, um sich zurechtzufinden, nach dem Aufwachen hatte er zuerst gedacht, er sei noch auf dem Land und müsse sich an seine morgendlichen Arbeiten machen. Dann fielen ihm aber die Busfahrt und die Warterei im Busbahnhof ein, und der unbekannte Mann, der ihn abgeholt hatte.
    Er richtete sich auf dem Sofa auf. Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte. Draußen war schönes Wetter, und die Morgensonne schien zum Fenster hinein. Einige Möbelstücke kannte er, andere nicht. Manches war fremd, wie beispielsweise ein Kasten, den er am Abend vorher gar nicht bemerkt hatte. Er stand auf einer Kommode und war vorne aus leicht vorgewölbtem Glas. Die anderen Seiten bestanden aus schwarz glänzendem Kunststoff, und das Ding hatte vorne merkwürdige Tasten. Er stand auf, ging zu dem Gerät hin und sah sein eigenes Spiegelbild seltsam verzerrt auf dem Glas, und er fand sich komisch. Als er mit der Hand über den Schirm strich und an den Tasten rumfummelte, geschah plötzlich etwas. Man hörte ein leichtes Rauschen,und auf dem Bildschirm erschienen fremdartige Zeichen, gefolgt von einem durchdringenden Pfeifton. Er schreckte zurück und sah sich nach Hilfe um. Dann fummelte er wieder wie wild an den Tasten herum, um das Geräusch zu stoppen. Auf einmal schrumpfte das komische Bild zusammen und wurde zu einem kleinen Punkt, der hinter dem Glas verschwand, und damit hörte auch das Geräusch auf. Er atmete auf.
    »Was ist denn hier los?«
    Seine Mutter war ins Wohnzimmer gekommen.
    »Ich glaube, ich habe das Ding da angemacht«, sagte er beschämt. »Ich wollte das aber gar nicht.«
    »Da bist du ja, mein Junge«, sagte seine Mutter. »Entschuldige, dass ich dich gestern Abend nicht abgeholt habe, ich habe es einfach nicht geschafft. Ich habe mich in letzter Zeit so schlapp gefühlt. Hast du irgendwo meine Zigaretten gesehen?«
    Er sah sich forschend um und schüttelte den Kopf.
    »Was hab ich nur mit der Schachtel gemacht?«, stöhnte sie und fing an, danach zu suchen. »Rögnvaldur hat dich also abgeholt?«
    Darauf wusste er keine Antwort, denn er hatte keine Ahnung, wie der Mann hieß, der ihn abgeholt hatte. Sie fand die Schachtel und die Streichhölzer, zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch aus. Beim nächsten Zug blies sie ihn durch die Nase.
    »Wie gefällt er dir, mein Liebling?«, fragte sie.
    »Wer?«
    »Na, Rögnvaldur. Du bist doch hoffentlich nicht begriffsstutzig?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Er ist in Ordnung.«
    »Rögnvaldur ist prima«, sagte sie und inhalierte wieder. »Manchmal ist er etwas komisch, aber ich mag ihn sehr gern. Auf jeden Fall ist er besser als dein Vater, dieser Schuft, das kann ich dir sagen. Was hast du auf dem Land zum Frühstück bekommen?«
    »Haferbrei«, sagte er.
    »War das nicht ekelhaft?«, fragte seine Mutter. »Möchtest du nicht lieber Frühstücksflocken? In Amerika essen das alle. Ich hab extra eine Packung für dich gekauft, mit Schokoladengeschmack.«
    »Vielleicht«, sagte er, um nicht undankbar zu klingen. Er mochte seinen Haferbrei morgens, er hatte ihn immer zum Frühstück bekommen, es sei denn, dass es dickes Rhabarberkompott mit Zucker gab, was ihm auch gut geschmeckt hatte.
    Er folgte seiner Mutter in die Küche, die zwei Schalen aus dem Schrank nahm und ein bräunliches Paket, aus dem kleine, braune Kugeln in die Schalen kullerten.

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