Abgründe
ihn gepackt hielt.
Der Mann ließ los und stolperte rückwärts. »Ich muss mit Erlendur sprechen«, winselte er.
»Ich bin nicht Erlendur«, sagte Sigurður Óli und ging zur Tür.
»Das weiß ich«, rief der Penner, der ihm auf den Fersen blieb. »Wo ist er? Ich muss mit ihm reden.«
»Erlendur ist nicht hier, und ich habe keine Ahnung, wo er ist«, sagte Sigurður Óli und öffnete die Tür.
»Und du?«
»Was ist mit mir?«
»Erinnerst du dich nicht an mich?«, fragte der Mann.
Sigurður Óli hielt inne.
»Erinnerst du dich nicht an Drési? Du bist damals mit Erlendur zu mir nach Hause gekommen, und ich habe euch von ihm erzählt.«
Sigurður Óli hielt die Tür auf und blickte den Mann lange an. »Drési?«, sagte er.
»Erinnerst du dich nicht an Drési?«, fragte der Penner, kratzte sich im Schritt und wischte einen Tropfen unter seiner Nase weg.
Sigurður Óli erinnerte sich dunkel an die Begegnung, aber erst nach einer ganzen Weile fiel ihm wieder ein, in welchem Zusammenhang das gewesen war. Der Mann war seitdem stark abgemagert, die schäbigen Klamotten schlotterten ihm am Leib, die völlig verdreckte Winterjacke, der Islandpullover und die Jeans waren viel zu groß. Seine Füße steckten in schwarzen Gummistiefeln. Er hatte auch sonst abgenommen, und die Haut im Gesicht war nicht weniger schlabberig als die Klamotten. Die leeren Augen, die eingefallenen Wangen und der schlaffe Mund verliehen ihm einen völlig leblosen Gesichtsausdruck. Es war unmöglich von seinem Aussehen auf sein Alter zu schließen, aber Sigurður Óli erinnerte sich, dass er Mitte vierzig war.
»Bist du Andrés?«
»Ich muss Erlendur etwas sagen. Ich muss mit ihm sprechen.«
»Das ist leider nicht möglich«, sagte Sigurður Óli. »Weshalb willst du mit ihm sprechen?«
»Ich muss ihn treffen.«
»Das ist keine Antwort. Ich hab’s eilig. Erlendur wird bald wieder zurück sein, dann kannst du mit ihm reden.«
Die Tür schloss sich vor Andrés’ Nase, und Sigurður Óli marschierte zu seinem Büro. Jetzt konnte er sich genau an den Mann erinnern und an seine Verbindung zu dem Fall, den sie im bitterkalten Januar des vergangenen Jahres bearbeitet hatten.
Er sah Finnur in einiger Entfernung und versuchte, unbemerkt in sein Büro zu gelangen, aber es gelang ihm nicht.
»Siggi!«, rief Finnur.
Sigurður Óli beschleunigte seine Schritte und tat so, als habe er nichts gehört. Im Dienst reagierte er ohnehin nie, wenn jemand ihn Siggi nannte.
»Ich muss mit dir reden!«, rief Finnur und folgte Sigurður Óli in sein Büro.
»Ich hab wirklich keine Zeit«, sagte Sigurður Óli.
»Die solltest du dir aber nehmen. Was hattest du bei Sigurlína zu suchen? Wie bist du darauf gekommen, dass ein Geldeintreiber für den Überfall verantwortlich ist, und von was für einem dubiosen Bildmaterial hast du gesprochen? Was weißt du, was wir nicht wissen, und warum zum Teufel enthältst du uns das vor?«
»Ich enthalte euch nichts …«, begann Sigurður Óli.
»Möchtest du vielleicht, dass ich das weiterleite?«, fiel Finnur ihm ins Wort. »Damit hab ich keine Probleme.«
Sigurður Óli wusste, dass Finnur nicht davor zurückschrecken würde, ein Fehlverhalten im Dienst zu melden. Er hätte gern mehr Zeit gehabt, um sich abzusichern. Ihm war klar, dass jetzt wohl auch Patrekur in den Fall hineingezogen würde. Hermann und seine Frau waren ihm gleichgültig.
»Jetzt hab dich doch nicht so«, sagte er. »Es ist völlig unwichtig. Ich wollte die Sache nur nicht unnötig verkomplizieren, bisher ging es schließlich nur um schwere Körperverletzung. Aber jetzt ist jemand gestorben. Ich wollte mit dir reden …«
»Ach nee, zu gütig von dir.«
»Es geht um Aufnahmen von Leuten, die mein Freund Patrekur kennt«, sagte Sigurður Óli. »Er hat mich mit denen bekannt gemacht. Der Mann heißt Hermann und ist sein Schwippschwager. Ich bin zu Sigurlína und Ebeneser gegangen, weil sie die Aufnahmen dazu verwendet haben, um Hermann und seine Frau zu erpressen. Diese Leute wurden beim Geschlechtsverkehr aufgenommen. Eines der Fotos habe ich gesehen, darauf war Hermann deutlich zu erkennen. Sigurlína und Ebeneser haben Hermann und seine Frau erpresst. Die haben wildfremde Paare zu sogenannten Schnitzelpartys zu sich nach Hause eingeladen, das ist ein anderes Wort für Swinger-Partys. Es lief wohl so ab, wie so etwas abläuft, nur dass in diesem Fall Lína und Ebbi versucht haben, sich daran zu bereichern. Es könnte auch noch mehr
Weitere Kostenlose Bücher