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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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Vater. »Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht. Ich arbeite hier gerade in der Nähe, und deswegen kam ich auf die Idee, bei dir vorbeizuschauen. Ich glaube, ich habe dich noch nie an deinem Arbeitsplatz besucht.«
    Sigurður Óli ging mit ihm in sein Büro. Er war überrascht, aber auch ärgerlich über diese Störung, sie passte ihm überhaupt nicht in den Kram. Sein Vater stöhnte leise, als er sich setzte. Anscheinend war er sehr müde. Er war nicht groß, aber stämmig gebaut und hatte kräftige, abgearbeitete Hände, die von ständigen Auseinandersetzungen mit Rohren, Fittings und Zangen zeugten. Er hatte Probleme mit dem Knie und hinkte deswegen leicht, was nicht verwunderlich war, da er bei der Arbeit ständig auf den Knien liegen musste. Das abstehende Haar unter der Schirmmütze war graumeliert, aber die buschigen Augenbrauen über den freundlichen Augen hatten ihre rote Farbe behalten. Anscheinend war er schon längere Zeit nicht beim Friseur gewesen. Die Bartstoppeln waren schon einige Tage alt, er rasierte sich offenbar immer noch nur einmal in der Woche, nämlich samstags. Die Augenbrauen durften auf keinen Fall angetastet werden, ganz so, als wären sie aus Edelmetall.
    »Hast du deine Mutter in letzter Zeit getroffen?«, fragte sein Vater und rieb sich das Knie.
    »Ich war gestern Abend bei ihr«, antwortete Sigurður Óli. Er war überzeugt, dass es sich nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Sein Vater hatte nie seineZeit für etwas Überflüssiges vergeudet. »Soll ich dir einen Kaffee holen?«
    »Nein, danke, mach dir bloß keine Umstände meinetwegen«, entgegnete sein Vater prompt. »Ging es ihr nicht gut?«
    »Ja, doch.«
    »Ist sie immer noch mit diesem Mann zusammen?«
    »Mit Sæmundur? Ja.«
    Das letzte Telefongespräch mit seinem Vater vor ungefähr drei Wochen hatte sich um dieselben Themen gedreht, und seitdem hatte er nicht mit seinem Vater gesprochen. Es hatte auch keinen besonderen Anlass zu dem Telefongespräch gegeben, eigentlich drehte es sich immer nur um diese Fragen nach Gagga und ihrem Lebenspartner.
    »Bestimmt ist das ein ordentlicher Mann«, sagte sein Vater.
    »Ich kenne ihn überhaupt nicht«, sagte Sigurður Óli, und das war keineswegs gelogen. Er hielt den Kontakt zu diesem Menschen in möglichst engem Rahmen.
    »Gagga hat schon alles im Griff.«
    »Wirst du etwas zu deinem Geburtstag machen?«, fragte Sigurður Óli seinen Vater, der sich immer noch das Knie rieb.
    »Ach, ich weiß nicht. Ich …«
    »Ist was?«
    »Ich muss ins Krankenhaus, Siggi.«
    »Wieso das denn?«
    »Prostata. So etwas ist wohl gang und gäbe bei Männern in meinem Alter.«
    »Was … Was meinst du denn? Krebs?«
    »Hoffentlich noch im Anfangsstadium. Sie gehendavon aus, dass sich noch keine Metastasen gebildet haben. Aber die Operation ist unbedingt erforderlich. Das war es, was ich dir sagen wollte.«
    »Verdammt noch mal«, rutschte es Sigurður Óli heraus.
    »Ja, wie das Leben so spielt«, sagte sein Vater. »Es lohnt sich nicht, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Aber sag doch, wie geht’s denn meiner lieben Bergþóra?«
    »Bergþóra? Also ziemlich gut, soweit ich weiß. Sag mal, hast du keine Angst? Was meinen die Ärzte?«
    »Tja, die haben mich gefragt, ob ich Kinder hätte. Ich hab ihnen von dir erzählt, und dann war die Rede davon, dass du dich auch untersuchen lassen solltest.«
    »Ich?«
    »Ja, die haben da von Risikogruppen geredet, und zu denen gehörst du wohl anscheinend. Früher hat man erst Gedanken auf so etwas verschwendet, wenn man über fünfzig war, aber jetzt ist die Schwelle wesentlich niedriger geworden. Und weil das vererblich ist, möchten sie dich auch sehen. Du solltest dich untersuchen lassen. Das war es, was ich dir sagen wollte.«
    »Und wann kommst du unters Messer?«
    »Am nächsten Montag, denn angeblich duldet die Sache keinen Aufschub.«
    Sein Vater hatte gesagt, was ihm auf dem Herzen lag. Er stand auf und öffnete die Tür.
    »Das war’s auch schon, Siggi«, erklärte er. »Lass dir einen Termin für eine Untersuchung geben, schieb es nicht vor dir her.«
    Und im nächsten Moment war der hinkende Mann mit dem kaputten Knie verschwunden.

Siebzehn
    Als Sigurður Óli gegen Abend beim Haus von Ebeneser und Sigurlína vorfuhr, machte dort alles den Eindruck, als sei hier nie etwas Besonderes vorgefallen. Ebbis großer Jeep mit den riesigen Reifen stand vor dem Haus, er war hochgetunt für Fahrten über halsbrecherische Pisten und

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