Abgründe
zu einer unumstößlichen Tatsache geworden waren.
»Hat sie gar nichts mehr gesagt, nachdem du eingetroffen warst?«, fragte Ebeneser, während er den Kaffee in den Filter gab.
»Nein«, entgegnete Sigurður Óli. »Sie war bewusstlos. Und dieser Kerl ist sofort auf mich losgegangen.«
»Musstest du ihm denn unbedingt nachlaufen?«, sagte Ebeneser und wandte sich Sigurður Óli zu. »Du hättest dich um sie kümmern müssen, das hast du nicht getan. Sie wäre dann vielleicht eher ins Krankenhaus gekommen. Das ist doch unter solchen Umständen das Allerwichtigste.«
»Natürlich«, sagte Sigurður Óli. »Deswegen habe ich auch sofort einen Krankenwagen und den Notarzt angerufen, und das hatte ich bereits getan, noch bevor der Kerl mich angegriffen hat. Ich wollte den Täter erwischen, das war eine ganz normale Reaktion. Ich bin nicht der Meinung, dass ich anders hätte reagieren können.«
Ebeneser schaltete die Kaffeemaschine ein, blieb aber bewegungslos am Tisch stehen.
»Und was ist mit dir selber?«, fragte Sigurður Óli.
»Wieso – was soll mit mir sein?«, fragte Ebeneser zurück, während er auf die Kaffeemaschine starrte.
»Du suchst offensichtlich nach irgendwelchen Schuldigen. Was ist mit dir? Inwieweit hattest du selber mit dem Angriff auf Lína zu tun? Was für ein Spiel habt ihr da eigentlich gespielt? Wessen Zorn habt ihr herausgefordert? Geht es vielleicht auf deine Initiative zurück? Hast du Lína mit in eine dreckige Sache hineingezogen? Seid ihr stark verschuldet? Worin liegt deine Verantwortung, Ebeneser? Hast du dir selber schon mal diese Frage gestellt?«
Ebeneser schwieg.
»Weshalb willst du uns das nicht sagen?«, fuhr Sigurður Óli fort. »Ich weiß, dass ihr versucht habt, Leute mit Fotos zu erpressen, es ist völlig zwecklos, das abzustreiten. Diese Leute werden gerade von uns vernommen, sie werden uns von den Partys bei euch zu Hause erzählen und davon, dass ihr die Leute beim Sex fotografiert habt, um mit diesen Aufnahmen Geld aus ihnen herauszuholen. Du bist auf dem Weg ins Gefängnis, Ebeneser. Zusätzlich zu all dem anderen wirst du wegen Erpressung angeklagt werden.«
Ebeneser blickte nicht auf. Die Kaffeemaschine rülpste vor sich hin, die schwarze Flüssigkeit in der Glaskanne stieg höher.
»Ihr habt das Leben dieser Leute ruiniert«, erklärte Sigurður Óli. »Du hast dein Leben ruiniert, Ebeneser. Für was? Für wen? Wie viel Geld war es dir wert? Wie hoch hast du den Preis für Lína angesetzt? Eine halbe Million? Ist das das Preisschild, das du ihr angehängt hast?«
»Halt die Schnauze«, stieß Ebeneser zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er starrte immer noch auf die Kaffeemaschine. »Mach, dass du rauskommst.«
»Du wirst zur Vernehmung bestellt werden, wahrscheinlich irgendwann im späteren Verlauf des Abends. Juristisch gesehen hast du jetzt den Status eines Verdächtigen in einem schmierigen Erpressungsversuch. Möglicherweise stecken sie dich in Untersuchungshaft, das weiß ich nicht. Vielleicht musst du eine Ausnahmegenehmigung beantragen, um bei Línas Beerdigung dabei sein zu können.«
Ebeneser glotzte die Kaffeekanne an, als sei sie sein einziger Halt im Leben.
»Ebbi, überleg es dir gut.«
Ebeneser antwortete nicht.
»Kennst du einen Mann namens Hermann? Ihr habt ihm ein Foto geschickt. Er hat es mir gezeigt.«
Ebenesers Blicke wichen nicht von der Kaffeekanne. Er schwieg. Sigurður Óli holte tief Luft. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich weitermachen wollte.
»Kennst du einen Mann namens Patrekur?«, fragte er schließlich. »Seine Frau heißt Súsanna. Sind die beiden auch involviert?«
Er stand auf, ging zu Ebeneser und holte das Foto aus der Manteltasche, das er von zu Hause geholt hatte, bevor er zu Ebeneser fuhr: Patrekur und Súsanna zu Besuch bei ihm und Bergþóra, als noch alles in Ordnung war. Das Foto war im Sommer gemacht worden, sonnengebräunte Gesichter, in den Gläsern funkelte Weißwein. Sigurður Óli legte das Foto neben die Kaffeemaschine.
»Kennst du diese Leute?«, fragte er.
Ebeneser betrachtete das Bild.
»Du hast kein Recht, hier zu sein«, sagte er dann so leise, dass Sigurður Óli ihn kaum verstehen konnte. »Hau ab! Hau ab mit diesem Scheiß!«, schnaubte er und schleuderte das Bild auf den Boden. »Raus mit dir«, rief er und stieß nach Sigurður Óli, der das Foto aufhob undein paar Schritte zurückwich. Sie starrten einander eine Weile in die Augen, dann drehte sich Sigurður Óli auf
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