Abgründe
Gletschereis. Sigurður Óli parkte sein Auto hinter dem Jeep und dachte an solche Fahrten ins Hochland. An abenteuerlichen Expeditionen mit solchen Autos hatte er nie das geringste Interesse verspürt, und ganz generell war er nicht für Reisen in Island zu haben, gar nicht zu reden von Zeltfahrten und den Unannehmlichkeiten, die damit verbunden waren. Seiner Meinung nach hatte er nichts auf einem isländischen Gletscher verloren. Bergþóra hatte das ein oder andere Mal versucht, ihn zu einer Reise innerhalb Islands zu bewegen, aber feststellen müssen, dass ihn das überhaupt nicht interessierte, er sogar regelrecht eine Abneigung dagegen hatte, genau wie gegenüber so vielem anderen. Am wohlsten fühlte er sich in Reykjavík in nicht allzu weiter Entfernung von seinen eigenen vier Wänden. Im Urlaub, den er immer im Ausland verbrachte, ging es ihm nicht darum, die Welt zu entdecken, sondern nur um die Sonne. Bergþóra war nicht überrascht, dass Florida zu seinen Lieblingszielen gehörte. Er konntesich kaum vorstellen, in Spanien oder anderen Mittelmeerländern Urlaub zu machen, dort war seiner Meinung nach alles unhygienisch und das Essen primitiv und dürftig. Historischen Sehenswürdigkeiten, Museen oder berühmter Architektur konnte er nicht das Geringste abgewinnen. In Orlando bestand keine Gefahr, dass man mit so etwas belastet wurde. Sein Geschmack im Hinblick auf Filme war ähnlich gelagert. Künstlerisch wertvolle europäische Filme, in denen nichts passierte und es um nichts ging, langweilten ihn. Actionfilme aus Hollywood mit großen Stars waren mehr nach seinem Geschmack. Englisch war die Sprache des Films. Wenn im Fernsehen etwas lief, was nicht englisch oder amerikanisch war, schaltete er sofort aus. Sämtliche anderen Sprachen, vor allem Isländisch, fand er auf dem Bildschirm oder auf der Leinwand infantil. Isländische Filme gingen ihm auf den Geist. Genauso wenig Interesse konnte er für Bücher aufbringen, er schaffte es kaum, sich im Jahr durch ein einziges Buch hindurchzuquälen. Musik hörte er hingegen viel, vor allem aus den goldenen Zeiten amerikanischer Rock-und Country-Musik.
Er blieb noch eine ganze Weile mit dem Blick auf Ebbis riesigen Jeep im Auto sitzen und ließ sich das Gespräch mit seinem Vater durch den Kopf gehen, die Krankheit, die die Ärzte bei ihm diagnostiziert hatten, und den Rat, sich selber daraufhin untersuchen zu lassen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Der Gedanke an eine Prostatauntersuchung flößte ihm Angst ein. Er erinnerte sich an unangenehme Fahrten mit kleinen Kunststoffbehältern zum Nationalkrankenhaus, als Bergþóra und er mit medizinischer Hilfeversucht hatten, ein Kind zu bekommen. Da hatte er sich morgens früh etwas herausquetschen, den Behälter warm halten und den Damen in der Rezeption aushändigen müssen, mit persönlichen Informationen über den Gang der Dinge. Und jetzt stand also ein Besuch bei einem Urologen bevor, der ihn darum bitten würde, sich auf die Seite zu legen und die Knie anzuziehen, während er sich die Latexhandschuhe überstreifte; bestimmt würde er irgendetwas über das Wetter reden, während er nach einer Schwellung suchte.
»Verdammte Scheiße«, rief Sigurður Óli und ließ die flachen Hände auf das Steuerrad niedergehen.
Ebeneser öffnete die Tür und ließ ihn nur widerstrebend ins Haus. Er durchlief den Prozess der Trauerbewältigung, sagte er, woraus Sigurður Óli schloss, dass er mit einem Pfarrer oder einem Psychologen geredet haben musste. Er erklärte, vollstes Verständnis dafür zu haben, sein Besuch würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.
Bei Sigurður Ólis letztem Besuch in diesem Haus war das Wohnzimmer demoliert gewesen, aber in der Zwischenzeit hatte Ebeneser aufgeräumt. Jetzt wirkte der Raum beinahe gemütlich, das Licht einer Stehlampe tauchte ihn in ein dämmriges Licht. Sessel und Stühle standen wieder an ihrem Platz, und die Bilder hingen gerade an den Wänden. Auf der Anrichte stand ein Foto von Lína, vor dem eine Kerze brannte.
Als Sigurður Óli eintraf, war Ebeneser im Begriff gewesen, Kaffee zu kochen. Die Kaffeepackung stand auf dem Tisch, und der Filterbehälter an der Maschine war herausgezogen. Sigurður Óli wartete darauf, dass Ebeneser ihm eine Tasse anbieten würde, aber die Einladung blieb aus. Ebeneser wirkte abwesend, seine Bewegungen waren langsam. Wahrscheinlich lag es daran, dass Línas Tod und die brutalen Umstände, die zu ihm geführt hatten, nunmehr
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