About Ruby
sie seit Jahren nicht gesehen hatte, erkannte ich die superordentliche Handschrift meiner Schwester sofort. Jeder Buchstabe war so akkurat dahingepinselt, dass man sich unwillkürlich fragte, ob sie sich den Text vorher einmal ins Unreine geschrieben hatte.
»J«
, stand da,
»im Kühlschrank ist Lasagne, schieb sie in den Ofen (180 Grad), sobald du zur Tür reinkommst. Bin spätestens um sieben daheim. Alles Liebe, ich«.
Ich nahm den Zettel von der Theke, las ihn noch einmal. Und begriff endgültig (der Zettel war bloß so etwas wie ein letzter Beweis), dass meine Schwester tatsächlich alles bekommen hatte, was sie wollte. Nicht nur die Dinge – Haus, Job, Sicherheit –, welche zu dem Leben gehörten, das sie sich nachts in unserem Zimmer (als es noch ein »unser Zimmer« gab) unter Garantie erträumt hatte. Nein, auch jemanden, mit dem sie dieses Leben teilen konnte. Jemanden, zu dem man heimkommen, mit dem man zu Abend essen, dem man einen Zettel hinlegen konnte. Lauter simple, ja im Grunde banale Dinge, die am Ende doch der einzige, konkrete Nachweis für ein echtes, ein richtiges Leben waren.
Bestimmt fand sie es absolut ätzend, dass ich genau in dem Moment auftauchte, in dem sie vermutlich gedacht hatte, sie hätte ihr altes Leben endgültig hinter sich gelassen. Und das ausgerechnet, nachdem sie so hart dafür gearbeitet hatte, an diesen Punkt zu gelangen.
Tja
, dachte ich,
Pech gehabt
. Zumindest konnte ich so nett sein, die Lasagne in den Ofen zu stellen.
Ich schaltete ihn ein, um ihn vorzuheizen, holte die feuerfeste Form mit der Lasagne aus dem Kühlschrank,stellte sie auf die Arbeitsplatte. Ich nahm gerade die Frischhaltefolie ab, da spürte ich etwas an meinem Bein. Als ich runterschaute, entdeckte ich, dass Roscoe in der Zwischenzeit die Küche durchquert hatte, zwischen meinen Beinen saß und zu mir hochblickte.
Im ersten Moment dachte ich, er hätte wieder auf den Boden gepinkelt und wartete nun darauf, dass ich mit ihm schimpfte. Doch dann merkte ich, dass er zitterte, denn ich fühlte zwischen meinen Knöcheln ein gewisses Beben. »Was ist los?«, fragte ich. Woraufhin er sich allerdings bloß noch tiefer duckte, noch fester an mich presste. Die ganze Zeit über ließ er mich nicht aus den Augen, sondern glotzte mich groß an. Als würde er mich um irgendetwas anflehen. Bloß dass ich keine Ahnung hatte, was.
Super
, dachte ich. Genau das hatte mir noch gefehlt: Der Hund starb unter meiner Aufsicht. Wodurch meine Rolle als Fluch, der über dieses Haus gekommen war, offiziell bestätigt sein würde. Seufzend stieg ich vorsichtig über Roscoe hinweg, um zum Telefon zu gehen; daneben hing eine Liste, auf der ganz oben Jamies Handynummer stand. Ich nahm den Hörer ab, wählte. Noch ehe ich damit fertig war, schlappte Roscoe bereits zu mir rüber und verkroch sich wieder zwischen meinen Füßen. Er zitterte mittlerweile heftig am ganzen Körper. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, während das Freizeichen ertönte. Glücklicherweise hob Jamie nach dem zweiten Klingeln ab.
»Mit dem Hund stimmt irgendetwas nicht«, verkündete ich.
»Ruby? Bist du das?«, fragte er.
»Ja.« Ich schaute angespannt zu Roscoe runter, der prompt noch dichter an mich heranrutschte und seine Schnauze in meine Wade drückte. »Sorry, wenn ich störe,aber er benimmt sich irgendwie . . . also, als wäre er krank. Oder so ähnlich. Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte. Deshalb rufe ich an.«
»Krank? Übergibt er sich?«
»Nein.«
»Hat er Durchfall?«
Ich verzog angewidert das Gesicht. »Nein«, antwortete ich. »Glaub ich wenigstens nicht. Ich bin gerade heimgekommen, und weil Cora einen Zettel hingelegt hat, dass die Lasagne in den Ofen müsse, habe ich ihn angestellt und wollte sie gerade –«
»Ach so«, meinte er beruhigend. »Okay. Alles in Ordnung, entspann dich. Er ist nicht krank.«
»Nicht?«
»Nein. Er hat bloß Schiss.«
»Vor Lasagne?«
»Vor dem Ofen.« Jamie seufzte. »Wir verstehen auch nicht ganz, wieso. Ich glaube, es hat etwas mit Fertigkartoffelpuffern und dem Rauchmelder zu tun. Anscheinend hat er damit eine traumatische Erfahrung gemacht.«
Ich blickte wieder auf Roscoe zu meinen Füßen, dessen Zittern geradezu dramatische Ausmaße angenommen hatte. Welche Wirkung so etwas wohl auf einen so winzigen Hund hatte? Auf keinen Fall konnte das gut für sein Nervensystem sein. Er hatte tatsächlich richtig Angst, das merkte ich, als er nun erneut zu mir hochschaute. »Wie
Weitere Kostenlose Bücher