Abraham Lincoln - Vampirjäger
hatten.«
Thomas sah es auf sie zuschweben und war zu verängstigt, um auch nur schreien zu können. Zu ängstlich, um seinen Vater zu warnen, dass es auf ihn zukam. Direkt über ihm. Genau in diesem Moment.
»Ich sah etwas gleißend Weißes und hörte ein Kreischen, das Tote hätte wecken können. Der alte Ben scheute, warf mich ab und ging wie wild durch. Den Pflug, der noch an einem Riemen befestigt war, schleifte er hinter sich her. Ich blickte auf, dorthin, wo Vater eben noch gestanden hatte. Er war verschwunden.«
Thomas rappelte sich auf. In seinem Kopf drehte sich alles, und sein Handgelenk war gebrochen, aber das sollte er erst ein paar Stunden später bemerken. Der Geist stand etwa fünfzehn oder zwanzig Fuß von ihm entfernt und drehte ihm den Rücken zu. Er stand über seinen Vater gebeugt, der ihn schicksalsergeben und sprachlos anstarrte wie einen Gott. Seine Hilflosigkeit war unübersehbar.
»Es war kein Geist. Auch kein Shawnee. Sogar von hinten konnte ich erkennen, dass dieser Fremde kaum mehr war als ein Knabe – er war nicht größer als meine Brüder. Das Hemd, das er trug, sah aus, als wäre es für jemanden gemacht worden, der doppelt so groß war wie er. Weiß wie Elfenbein. Halb in den Bund seiner grau gestreiften Hose gesteckt. Seine Haut hatte verdammte Ähnlichkeit mit dem Farbton seines Hemds, und sein Nacken war durchzogen von blauen Äderchen. Da stand er und unterschied sich durch kein Zucken und keinen Atemzug von einer Statue.«
Abraham senior war gerade einmal zweiundvierzig Jahre alt. Gute Gene hatten ihm breite Schultern und eine stattliche Figur verliehen. Dank ehrlicher Arbeit war er schlank und muskulös. Er war noch niemals als Verlierer aus einer Prügelei hervorgegangen, und er war wild entschlossen, dass dies nicht das erste Mal sein würde. Er kam wieder auf die Füße, »schwerfällig, als seien seine Rippen gebrochen«, richtete sich auf und ballte die Fäuste. Er war verletzt, aber dafür war jetzt keine Zeit. Zuerst musste er diesem kleinen Mistkerl eins verpassen …
»Vaters Kinnlade klappte herunter, als er dem Jungen ins Gesicht blickte. Was auch immer er da sah, es machte ihm eine Höllenangst. Er stammelte noch: ›Was in Gottes Nam…?‹«
Schon holte der Junge aus, verfehlte jedoch Abraham seniors Kopf. Es hat mich nicht erwischt. Thomas’ Vater wich zurück und hob die Fäuste, hielt dann jedoch inne, ehe er zuschlug. Es hat mich nicht erwischt. Plötzlich verspürte er ein Brennen an der linken Gesichtshälfte. Oder doch? Ein Kribbeln unter dem Auge. Mit den Fingerspitzen befühlte er sein Gesicht … ganz vorsichtig. Blut lief ihm in Strömen herunter. Es kam aus der Wunde, die sich rasiermesserdünn von seinem Ohr bis zum Mund zog.
Es hatte ihn erwischt.
Dies sind also die letzten Sekunden meines Lebens.
Abraham spürte, wie sein Kopf nach hinten schnellte. Spürte, wie seine Augenhöhle zertrümmert wurde. Überall dieses Licht. Er spürte, wie ihm das Blut aus den Nasenlöchern quoll. Ein weiterer Hieb folgte. Dann noch einer. Von irgendwoher hörte er seinen Sohn schreien. Warum läuft er denn nicht weg? Sein Kiefer zersplitterte. Seine Zähne wurden ihm ausgeschlagen. Die Fäuste und die Schreie entfernten sich immer mehr. Einfach schlafen … und nie mehr aufwachen.
Das Ding packte Abraham senior beim Schopfe und schlug immer wieder zu, bis sein Schädel schließlich »nachgab wie eine Eierschale«.
»Der Fremde legte die Hände um den Hals meines Vaters und hob ihn hoch in die Luft. Ich fing wieder an zu schreien, denn ich war mir sicher, dass er nun noch den letzten Rest an Leben aus ihm herauswürgen wollte. Aber stattdessen bohrte er ihm seine langen Daumennägel in den Adamsapfel und – zack – riss ihm die Kehle von der Mitte aus auf. Dann hielt er seinen Mund unter die Wunde und schlürfte wie ein Betrunkener aus einer vollen Whiskeyflasche. Schluck für Schluck trank er sein Blut. Wenn es nicht schnell genug floss, legte er einen Arm um den Brustkorb meines Vaters und drückte fest zu. Er presste sein Herz bis auf den letzten Tropfen aus. Dann ließ er ihn in den Staub sinken und wandte sich um. Nun erst begriff ich. Nun erst wurde mir klar, warum mein Vater so verängstigt ausgesehen hatte. Das Ding hatte Augen so schwarz wie glänzende Kohlestücke und Zähne so lang und scharf wie die eines Wolfs. Ich blickte in das bleiche Antlitz eines Dämons, der Blitz soll mich treffen, wenn ich lüge. Mein Herz klopfte zum Zerspringen.
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