Abraham Lincoln - Vampirjäger
glücklich, denn er ist fort – und mit ihm das einzige Hindernis für unser gemeinsames Glück. Nun soll es keinen Aufschub mehr geben! Sobald Ann wieder genesen ist, werde ich bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten.
21 Lange Lederstreifen, mit denen Rasiermesser gewetzt werden.
Aber Ann sollte nicht mehr genesen.
Als Abe am Morgen des 24. August wieder zu den Rutledges kam, war sie schon so krank, dass sie Mühe hatte, mehr als ein paar schwerfällige Worte am Stück zu artikulieren. Ihr Fieber stieg stetig, und ihre Atmung wurde immer flacher. Mittags konnte sie überhaupt nicht mehr sprechen, und sie glitt immer wieder in die Bewusstlosigkeit. Wenn sie zwischendurch daraus erwachte, befand sie sich in einem alptraumhaften Delirium – ihr Körper wurde so sehr von Krämpfen gebeutelt, dass ihr Bettrost rasselnd den Boden berührte. Das Ehepaar Rutledge hatte sich mit Abe am Krankenbett ihrer Tochter eingefunden und achtete darauf, dass sie immer frische kalte Wickel bekam und die Kerzen nicht ausgingen. Auch der Arzt stand ihnen schon seit Mittag mit aufgekrempelten Hemdsärmeln tatkräftig zur Seite. Zunächst war er »überzeugt« gewesen, dass es sich um Typhus handelte. Nun war er sich da jedoch nicht mehr so sicher. Wahnvorstellungen, Krämpfe, Ohnmacht – und all das in so kurzer Zeit? So etwas hatte er noch nie erlebt.
Abe hingegen schon.
Eine schlimme Befürchtung machte sich im Laufe des Tages in mir breit. Eine altbekannte Befürchtung. Ich wurde wieder zu dem Jungen von neun Jahren, der mit ansehen musste, wie sich seine Mutter durch denselben Alptraum quälte. Ich flüsterte dieselben nutzlosen Gebete und fühlte dieselbe unerträgliche Schuld. Ich war es, der dies über sie gebracht hatte. Ich, der ich den Brief geschrieben hatte, in dem ich auf ihre Freigabe drängte. Und wen hatte ich darum ersucht? Einen Mann, der auf mysteriöse Weise verschwunden und dann krank und kreidebleich zurückgekehrt war … ein Mann, der gewartet hatte, bis die Nacht hereingebrochen war, um seine Verlobte zur Rede zu stellen … ein Mann, der sie eher leiden und sterben sehen wollte als in den Armen eines anderen.
Ein Vampir.
Diesmal gab es keine letzte Umarmung. Kein letztes Aufatmen. Diesmal entschlief sie einfach. Gottes schönstes Geschöpf. Besudelt.
Ausgelöscht.
Ann Rutledge starb am 25. August 1835. Sie war erst zweiundzwanzig Jahre alt.
Abb. 1-3 – Abe weinend am Bett der dahinsiechenden Ann. Radierung aus Tom Freemans Buch Lincolns First Love (1890).
Abe verkraftete es nicht besonders gut.
25. August 1835
Mr. Henry Sturges
200 Lucas Place, St. Louis
per Express
Lieber Henry,
ich möchte Dir für Deine jahrelange Freundlichkeit danken und Dich gleichzeitig zum Abschied um einen letzten Gefallen bitten. Unten findest Du den Namen von einem, der es früher verdient hat. Der einzige Segen im Leben liegt darin, es zu beenden.
John MacNamar
New York
A.
Die folgenden zwei Tage wechselten sich Jack Armstrong und die Clary’s-Grove-Jungs darin ab, ihn rund um die Uhr im Auge zu behalten. Sie nahmen ihm sein Taschenmesser ab, seine Werkzeuge und sein Steinschlossgewehr. Sie konfiszierten sogar seinen Gürtel, aus Angst, er könnte sich damit erhängen. Jack kümmerte sich auch darum, dass Abes geheimes Arsenal an Jagdwaffen außerhalb seiner Reichweite war.
Eine Waffe jedoch entging ihrer Achtsamkeit. Keiner von ihnen dachte daran, unter meinem Kopfkissen nachzusehen, wo ich eine [Pistole] versteckt hatte. Als mir Jack in der zweiten Nacht kurz von der Seite wich, holte ich sie hervor und hielt mir den Lauf an die Schläfe. Ich war fest entschlossen, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich malte mir aus, wie die Kugel in meinen Schädel eindringen würde. Fragte mich, ob ich den Schuss noch hören und den Schmerz noch durch mich hindurchjagen fühlen würde. Ich fragte mich, ob ich, bevor ich starb, noch sehen würde, wie meine Gehirnmasse an die Wand spritzt, oder ob alles bloß noch Dunkelheit sein würde – wie wenn man die Kerze am Nachttisch ausbläst. Ich hielt mir die Waffe an den Kopf, aber ich drückte nicht ab …
Lebe …
Ich konnte es nicht …
Konnte sie nicht enttäuschen. Ich ließ die Waffe zu Boden fallen, weinte, verfluchte mich selbst meiner Feigheit wegen. Verfluchte alles. Verfluchte sogar Gott.
Anstatt sich in jener Nacht umzubringen, tat Abe das, was er in Zeiten ungeheuren Kummers oder überbordender Freude immer getan hatte – er nahm Stift und Papier zur
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