Abrechnung: Ein Fall für Kostas Charitos (German Edition)
Pavlos. »Frau Frosso, das hier sind Freunde, die sich das Asyl anschauen wollen.«
»Das sieht ja lecker aus, was Sie hier zubereiten«, meint Katerina zu ihr.
Frau Frosso lässt den Kochlöffel sinken und blickt sie an.
»Früher, mein Schatz, habe ich für die Familie gekocht, jetzt tue ich es für die Obdachlosen. Sie sind jetzt meine Familie. So ist das heutzutage.«
»Kommen Sie mit zu den Zimmern«, fordert uns Loukia auf. »Dazu müssen wir die Treppe hoch. Den Fahrstuhl haben wir stillgelegt. Die Stromkosten können wir uns nicht leisten.«
Das Hotel hatte früher an die sechzig Betten. Pavlos und seine Freunde haben in jedem Zimmer mehrere Feldbetten aufgestellt, um eine größere Zahl von Obdachlosen unterzubringen.
Im ersten Stock sitzt in dem Raum, der dem Treppenabsatz gegenüberliegt, eine Sechzigjährige mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett und wiegt sich vor und zurück, während sie das Kirchenlied »Stumm mögen die Lippen der Gottlosen sein« vor sich hin summt.
Die Obdachlosen sitzen in ihren Zimmern. Die einen unterhalten sich, die anderen liegen auf ihren Betten, den Blick an die Decke geheftet.
»Wie geht’s, Herr Stavros?«, fragt Loukia einen Mann in den Siebzigern.
Der Mann löst den Blick von der Zimmerdecke und schaut sie an.
»Gut, mein Schatz, Gott sei Dank. Wenn man bedenkt, in wie vielen Parks und Hauseingängen ich schon übernachtet habe, fühle ich mich hier wie im Hotel Grande Bretagne.«
»Wie wählt ihr die Leute aus?«, fragt Katerina Pavlos.
»Zunächst einmal nehmen wir die Älteren auf. Wenn ein Bett frei wird, klappert einer von uns die Parks und Hauseingänge der Wohnblocks in den heruntergekommenen Vierteln ab. Obdachlose über sechzig fragen wir dann, ob sie hier wohnen möchten. Die meisten sagen auf der Stelle zu. Früher haben viele noch eine kleine Rente bekommen, aber jetzt reicht die nirgends mehr hin. Wir bieten ihnen eine Unterkunft, so dass sie ihr Geld für persönliche Ausgaben wie Medikamente oder Essen ausgeben können. Zweimal im Monat kommen Mitarbeiter von ›Ärzte der Welt‹ vorbei, die sie untersuchen und Medikamente verteilen, die sie sich nicht leisten können.«
Alles ist wohl durchdacht und organisiert. Das Einzige, was mangelhaft erscheint, ist die Sauberkeit. Auf den Fluren und in den Zimmern herrscht ein heilloses Durcheinander.
»Macht hier denn niemand sauber?«, fragt Sissis.
Loukia zuckt mit den Schultern. »Wir halten sie jeden Tag dazu an. Alle Jubeljahre packt eine Frau der Ehrgeiz, und sie greift zum Besen. Normalerweise stoßen wir jedoch auf taube Ohren. Aber wir bestehen auch nicht darauf. Die Leute sind ausgelaugt, frustriert, zermürbt… Wie soll man sie motivieren? Sie haben keine Kraft mehr.«
»Hören Sie mal«, meint Sissis zu ihr. »Ich habe mein halbes Leben in den Kellergeschossen der Polizei und auf den Deportationsinseln Makronissos und Ai Stratis verbracht. Drei Dinge haben die altgedienten Insassen den Neuankömmlingen beigebracht: Erstens, halte deine Gefängniszelle sauber. Zweitens, achte darauf, dass dein Platz im Lager ordentlich ist. Drittens, mach jeden Morgen dein Bett. Nicht, weil sie Sauberkeitsfanatiker waren, sondern weil dieser Ort für Jahre unser Zuhause sein würde. Deshalb sollten wir uns darum kümmern wie um unsere eigene Wohnung. Damit wir den Lebensmut nicht verlieren.«
Loukia starrt ihn an und sucht nach Worten. Doch Sissis erwartet keine Antwort. Was er sagen wollte, hat er gesagt. Jetzt setzt er seinen Rundgang fort. Plötzlich stürmt ein Siebzigjähriger aus seinem Zimmer und schreit los:
»Die wollen uns hier rausschmeißen! Kommt alle her, die wollen uns hier fortjagen!«
»Beruhigen Sie sich, Herr Antonis«, sagt Pavlos. »Die Leute hier sind Freunde. Niemand will euch rausschmeißen.«
Der Alte beachtet ihn nicht weiter. Er packt mich am Arm und beginnt, mich zu schütteln, als ahne er, dass ich hier der Bulle bin.
»Von hier kriegt uns keiner weg. Erst hat man uns aus unseren Wohnungen vertrieben, dann aus den Parks, aber hier schmeißt uns keiner raus.«
Ich nehme seine kleine Attacke widerstandslos hin, doch Katerina ist vor Schreck erstarrt. Kurz darauf lässt Herr Antonis von mir ab und bleibt erschöpft und mit hängenden Armen stehen.
Durch eins der Zimmer trete ich auf den Balkon, um Luft zu holen. Die Ajias-Sonis-Straße ist ruhig, begrünt mit Bäumen, Büschen und Blumenrabatten. Ein Saxophonspieler gibt ein Ständchen, doch sein ganzer Einsatz ist
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