Abrechnung: Ein Fall für Kostas Charitos (German Edition)
sechziger Jahre. Arbeit gab’s nicht, wir hatten nichts zu beißen. Meine Mutter hat Wildkräuter gesammelt, damit wir überhaupt was zu essen hatten. Das war unser Hauptgericht. Und wir saßen im Kafenion rum und haben über unser Schicksal gejammert. Eines Tages kam jemand vorbei und erzählte, die Deutschen suchten Leute, die bei ihnen im Land arbeiten wollten. Alle stürzten sich darauf. Da habe ich mich auch gemeldet, wurde aber nicht genommen.«
»Mit welcher Begründung?«, fragt Mania.
»Mit gar keiner. Als die Namen bekanntgegeben wurden, war meiner nicht dabei. Dann dachte ich, das war’s jetzt. Auch die letzte Möglichkeit ist futsch. Als ich mit ansehen musste, wie sich die anderen Dorfbewohner von ihren Familien verabschiedet haben und abgefahren sind, war mir ganz elend zumute. Einen Monat später kam ein Mann so um die fünfzig ins Dorf und erzählte, er könne allen eine Stelle vermitteln, die in Deutschland arbeiten wollten. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Er erklärte uns, welche Papiere wir brauchten, damit er uns einen Reisepass beschaffen konnte. Zwei Wochen später hat er uns auf einen gedeckten Lkw geladen, und los ging’s nach Deutschland. Wir waren fünfzig Mann. Quer durch Jugoslawien hat er uns bis nach Wuppertal gefahren. Dort hat man uns in einer Halle untergebracht, in der ein riesiges Matratzenlager eingerichtet war. Vor lauter Matratzen hatten wir nicht mal Platz für unser Gepäck. Doch uns war das egal. Wir brannten darauf zu arbeiten. Am nächsten Tag hat er uns in eine Fabrik gebracht, und wir haben losgelegt. Den Lohn bekamen wir nicht von der Fabrik, sondern von unserem Vermittler. Am Ende jeder Woche kam er mit einer Aktentasche und bezahlte uns. So ging es zwei Monate lang. Am Anfang des dritten Monats kamen wir eines Morgens bei der Fabrik an und standen vor verschlossenen Toren. Wir versuchten herauszukriegen, was passiert war, aber wir konnten ja kein Deutsch und der Wächter kein Griechisch. Wie sollten wir uns da verständigen? Das einzige Wort, das wir verstanden, war ›Nein‹. Also kehrten wir in unsere Unterkunft zurück und suchten den Mann, der uns hergelotst hatte, aber der war verschwunden. Schließlich erklärte uns ein Grieche, dass die Arbeitsaufsicht dahintergekommen war, dass wir keine Aufenthaltsgenehmigung hatten. Nach ein paar Tagen tauchte der Besitzer der Lagerhalle auf und setzte uns vor die Tür. Wir strandeten am Wuppertaler Bahnhof, wo wir andere Griechen um ein paar Mark für unsere Rückfahrkarte anbettelten. Aber unsere Landsleute hielten ihr Geld für ihre Familien zusammen. Wieso sollten sie uns was abgeben? Langer Rede kurzer Sinn: Es hat ein paar Monate gedauert, bis ich das Geld für die Rückfahrkarte zusammenhatte, und in dieser Zeit habe ich am Bahnhof übernachtet. Ab und zu hat mir jemand einen Job besorgt, so dass ich ein paar Mark verdiente und nicht verhungerte. So, das war die Geschichte.«
»Vielen Dank, Barba-Mitsos«, sagt Mania. »Wer Immigranten mit Gewalt wegjagen will und nicht begreift, dass viele von ihnen, wie uns Aliki Ferentinou erläutert hat, in Griechenland unfreiwillig festsitzen, sollte daran denken, dass unsere Großväter und Väter im Deutschland der sechziger Jahre in genau derselben Lage waren. Sie hören Radio Hoffnung. Denn es gibt Hoffnung. Wir melden uns morgen wieder um 19 Uhr. Ihnen allen einen schönen Abend noch.«
Die Sendung ist zu Ende, doch meine Gedanken kreisen weiter um das Thema. Ich muss daran denken, wie viele aus meinem Dorf nach Deutschland ausgewandert sind und wie viele, so wie Barba-Mitsos, beschämt und ausgenutzt zurückkehrten. Unter ihnen war auch ein entfernter Vetter meines Vaters, der sich nach seiner Rückkehr gar nicht mehr aus dem Haus traute.
»Na, wie war’s?« Katerinas Frage reißt mich aus meinen Erinnerungen.
»Glückwunsch«, sage ich gerührt. »Ein Grund mehr, stolz auf dich zu sein.«
»Das alles hätte ich nicht tun können, wenn ich für das UN -Flüchtlingskommissariat nach Afrika gegangen wäre. Wie gut, dass ihr mich damals zurückgehalten habt.«
»Das ist Lambros’ Verdienst, nicht unserer. Und auf ihn solltest du jetzt auch wieder hören.«
»Warum?«, wundert sie sich.
Endlich erzähle ich ihr von den Drohungen, die in der Nacht der Ausschreitungen gegen sie ausgestoßen wurden.
»In der Zwischenzeit hat sich die Lage noch verschärft, einmal durch die Anzeige, die du im Namen der Migranten erstatten willst, und jetzt durch das
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