Abrechnung: Ein Fall für Kostas Charitos (German Edition)
werde. Wortlos zieht er seine Latexhandschuhe an und beugt sich über den Toten. Doch ehe er ihn überhaupt berührt hat, ertönt schon der bekannte Klingelton.
»Hier Polytechnikum…« Dann folgt die Parole des studentischen Radiosenders, die ich nicht weiter beachte, da ich sie schon zur Genüge kenne. Voller Ungeduld warte ich auf den letzten Satz. »Brot, Bildung, Freiheit. Freiheit finden wir nur in der Emigration.«
»Diesmal hat er aber schnell angerufen«, bemerkt Dimitriou.
»Weil er keinen Blickkontakt zu uns hat. Die vorigen beiden Opfer lagen ja draußen. Da konnte er uns gut beobachten. Hier liegt der Tote im Laden, und durch diese dreckigen Schaufenster sieht er uns nicht. Also hat er kurz abgewartet und gleich, nachdem Stavropoulos das Geschäft betreten hat, angerufen.«
Die dritte Botschaft gibt mir einen neuen Anhaltspunkt in die Hand, den ich bis jetzt noch nicht berücksichtigt habe. Für wen bedeutet Emigration den Weg in die Freiheit? Für die jungen Leute. Sie wandern aus, weil sie in ihrer Heimat keine Arbeit finden. Bisher haben wir nach jemandem aus der Generation der Opfer gesucht, der sich aus irgendeinem Grund an Demertsis und Theologis rächen wollte. Vielleicht stammt der Täter und seine Komplizen jedoch gar nicht aus Demertsis’ oder Theologis’ Altersgruppe, sondern es sind zornige junge Leute, die ihre Existenzängste der Generation Polytechnikum zur Last legen und sie dafür zur Verantwortung ziehen wollen.
Wem war diese Gruppe immer schon verhasst? Den Rechtsextremen. Für sie war dieser Klüngel stets ein rotes Tuch. Und das führt uns wieder zu Gonatas’ These vom rechtsextremen Terror.
Ich rufe ihn umgehend an und berichte von den neuesten Entwicklungen.
»Stimmt«, sagt er, als ich geendet habe. »Die Aussage ›Freiheit finden wir nur in der Emigration‹ verweist auf arbeitslose junge Menschen. Und gewaltbereit sind am ehesten rechtsextreme junge Männer.«
»Ja, aber Lepeniotis kann kein Zufallsopfer sein. Er muss irgendetwas mit dem Spruch des Klingeltons zu tun gehabt haben.«
»Ich kriege raus, was Lepeniotis beruflich gemacht hat, und halte Sie auf dem Laufenden«, erwidert er.
Was bei seinem Vorgänger Stathakos auf größten Widerstand gestoßen wäre, bietet Gonatas von sich aus an. Ja, er übernimmt sogar Koulas Aufgaben.
Der Zusammenhang zwischen den Morden wird immer deutlicher. Demertsis setzte auf seinen Baustellen Zuwanderer ein. Wer behauptet, dass die Ausländer den Griechen die Butter vom Brot nehmen? Die Ultrarechten. Theologis hatte sich an der Uni mit den linken Parteijugendorganisationen und Studentenverbänden eine solide Machtbasis geschaffen. Wiederum sind es die Rechtsextremen, die auf dieser Ebene außen vor bleiben. Dasselbe gilt für die Arbeitssuche. Die Ultrarechten würden am ehesten die Schuld für ihre Arbeitslosigkeit bei der Generation Polytechnikum suchen. Wie man die drei Morde auch dreht und wendet, man landet jedes Mal in dieser ideologischen Ecke.
Nachdem sich der Nebel in meinem Hirn gelichtet hat, führt ein Gedanke zum nächsten. Ich lasse Stavropoulos und Dimitriou ihre Arbeit tun und gehe mit Papadakis zum Ladeneingang. Noch immer stehen Schaulustige davor, die sich über den Vorfall unterhalten.
»Hat jemand unter Ihnen Dimos Lepeniotis gekannt?«, frage ich in die Menge.
»Ja, ich!«, ruft eine Frau Anfang sechzig, während noch drei weitere Arme in die Höhe schnellen.
Ich reserviere die Erste für mich und überlasse die anderen drei Papadakis.
»Wo können wir in Ruhe reden?«, frage ich die Frau.
»Bei mir zu Hause.«
Sie wohnt drei Häuser von dem Ladengeschäft entfernt in einem zweistöckigen Bau in der Magnissias-Straße. Dort angekommen, führt sie mich in die zweite Etage hoch.
»Die erste Etage habe ich an russische Pontusgriechen vermietet«, erläutert sie mir und nickt bekräftigend. »Dieses Haus war immer schon offen für Flüchtlinge und Zuwanderer.«
»Wie heißen Sie?«
»Eleni Tsombanoglou. Meine Familie ist aus Kleinasien nach Griechenland geflohen.«
Die Erklärung ist überflüssig, die ganze Einrichtung lässt erkennen, dass hier Vertriebene wohnen. Alles ist alt, vom Holztisch und den Stühlen mit der Bastlehne, den Kaffeetischchen neben den Sesseln bis hin zum Vitrinenschrank mit dem bisschen Familiensilber. Am auffälligsten sind die Stickdeckchen, die überall ausgebreitet liegen: auf dem Tisch, auf den Arm- und Rückenlehnen der Sessel sowie auf den Beistelltischchen. Dabei
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