Abrechnung: Ein Fall für Kostas Charitos (German Edition)
beeindruckt nicht nur die Anzahl, sondern vor allem der Reichtum an Mustern. Eine Unzahl von Stickereien schmückt das gesamte Zimmer. Ganz so, als hätte eine Frau ihr ganzes Leben bis zu ihrem letzten Atemzug nur mit Handarbeiten verbracht.
Die Tsombanoglou quittiert meine verwunderten Blicke mit einem Lächeln.
»Hier sehen Sie die Fleißarbeit zweier Generationen, Herr Kommissar: die Stickereien meiner Großmutter und meiner Mutter. Ich wurde davon befreit, weil ich studieren sollte.«
»Was haben Sie studiert?«
»Anglistik. Meinen Lebensunterhalt habe ich mit Englischunterricht an Nachhilfeinstituten verdient.«
»Woher kannten Sie Lepeniotis?«
»Wir waren Nachbarskinder und sind zusammen zur Grundschule gegangen. Der Laden gehörte seinem Vater. Er hatte Bettwäsche und Badtextilien im Angebot. Das ganze Viertel hat bei Herrn Sotiris eingekauft. Er war sehr beliebt, ein netter Mensch, immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Wenn ein Nachbar in finanziellen Schwierigkeiten war, ist er ihm mit dem Preis entgegengekommen. Mit diesem Laden hat er Dimos das Studium finanziert.«
»Welches Studium?«
»Wirtschaftswissenschaften. Ehrlich gesagt habe ich nie verstanden, warum Herr Sotiris unbedingt wollte, dass Dimos studiert. Er hätte so gern gesehen, dass sein Sohn das Geschäft übernimmt. Vermutlich wollte er, dass sein Sohn ein Diplom in der Tasche hat, auch wenn er es dann gar nicht braucht. Für Herrn Sotiris’ Generation war ein Universitätsabschluss so etwas wie eine Lebensversicherung. Wahrscheinlich dachte er: ›Schaden kann’s nicht.‹ Aber Dimos hat sich dann mit ganz anderen Dingen beschäftigt.«
»Und zwar?«
»Zuerst hat er sich dem Widerstand gegen die Junta angeschlossen. Dann hat er sich in der Gewerkschaft engagiert, er war Mitglied in der PASKE . Da hatte er keinen Kopf mehr fürs Geschäft.«
Lepeniotis’ gewerkschaftliche Tätigkeit liefert eine mögliche Erklärung für die Handy-Botschaft. Doch auch seine Aktivitäten im Widerstand gegen die Junta weisen ihn als Vertreter der Generation Polytechnikum aus.
»Wissen Sie, wo ich seinen Vater finden kann?«
»Er lebt nicht mehr. Zuerst ist Stavroula, seine Frau, heimgegangen, und ein Jahr später ist er ihr nachgefolgt. Er hat den Kummer mit ins Grab genommen, dass sein Sohn das Geschäft nicht wertgeschätzt hat, das die ganze Familie ernährt und ihm das Studium ermöglicht hat. Nach seinem Tod hat Dimos den Laden an einen Nachbarn vermietet, einen Möbelhändler. Aber in der Krise ging das Geschäft pleite, und seit damals steht der Laden leer. Die einzigen Interessenten waren Asiaten. Aber Dimos wollte nicht an sie vermieten, weil er befürchtete, dass sie ihn eines Tages mit einem Haufen Mietschulden sitzenlassen. Er wartete ab, ob sich ein Grieche meldete. Aber wer macht heutzutage schon einen Laden in der Acharnon-Straße auf? Nur, um gleich Konkurs anzumelden?«
Die Tsombanoglou ist ein wahrer Segen für den Kriminalisten. Man braucht ihr gar keine Fragen zu stellen, alles sprudelt ganz von allein aus ihr heraus.
»Wissen Sie vielleicht, wo Dimos Lepeniotis gearbeitet hat?«, frage ich sie.
»Er war im öffentlichen Dienst, aber was und wo… da bin ich überfragt. Sehen Sie, man traf Dimos in unserem Viertel gar nicht mehr an. Solange seine Eltern noch lebten, ist er ab und zu mit seinem Sohn vorbeigekommen, damit die Großeltern ihren Enkel auch mal sehen. Als die Eltern dann starben, hatte er keinen Grund mehr herzukommen.«
»War er verheiratet?«
»Geschieden. Böse Zungen sagen, seine Frau wäre mit dem Jungen abgehauen. Aber die Nachbarn reden viel. Und am liebsten über die Leute, die weggezogen sind. Was davon wahr ist, weiß niemand.«
Da mir meine Fragen ausgegangen sind, erhebe ich mich.
»Vielen Dank, Frau Tsombanoglou.«
»So ein schlimmes Ende, abgeknallt wie ein tollwütiger Hund!«, sagt sie zu mir, als wir an der Haustür stehen. »Ja gut, vielleicht war da eine gewisse Großmannssucht. Manchmal haben wir ihn im Fernsehen gesehen, wenn er bei Demos oder nach Ministertreffen Erklärungen abgegeben hat. Und da hat er den Mund ganz schön voll genommen. Mein seliger Vater hat ihm damals den Vogel gezeigt und ihn einen ›eingebildeten Lackaffen‹ genannt. Trotzdem, so einen Tod hat er nicht verdient.«
Auf dem Weg die Treppe hinunter wird mir klar: Keiner der drei – weder Demertsis noch Theologis noch Lepeniotis – war ein großer Sympathieträger.
Als ich in den Laden zurückkehre, um
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