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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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unter den Tisch geklebt hatte. Frau Hannemann, eine am Tisch sitzende Buchhalterin, widersprach Holzmann. Frauen kleben ihr Kaugummi immer an den Innensaum ihres Rocks, sagte sie, haben Sie das noch nicht gesehen? Sie scheinen noch nicht einmal bemerkt zu haben, daß die Frauen überhaupt keine Röcke mehr anhaben, sagte Holzmann scharf. Minutenlang stritten sich Frau Hannemann und der junge Buchhalter Holzmann darüber, welche Frauen wann Hosen trugen und wann nicht und wenn nein, ob sie ihr Kaugummi dann an den Innensaum der Röcke klebten oder nicht. Das Gerede der Kollegen machte Abschaffel wieder ganz fertig. Er hatte sich absichtlich zu den Buchhaltern gesetzt, weil er geglaubt hatte, bei ihnen mehr Zurückhaltung und Niveau zu finden. Das Gegenteil war der Fall, zumindest heute. Er glaubte, er müsse diese Leute eines Tages so weit bringen, daß sie ihre Schuld an seiner Niedergeschlagenheit einsahen, und er überlegte tatsächlich, wie er dies anstellen konnte. Vielleicht sollte ich plötzlich ganz mager und traurig werden, so klapperdürr und ständig tränenüberströmt, daß ihnen der Einfall kommen mußte, sie selbst seien die Ursache für diese schrecklichen Veränderungen. Aber vielleicht waren diese Leute überhaupt nicht mehr schuldfähig, überlegte er; sie handelten und redeten, und vermutlich hatten sie keine Einsicht in ihr Handeln und Reden. In seiner verletzten Mutlosigkeit spürte er eine starke Lust, den Tisch umzuwerfen und die großen Rotkohlkübel aus der Küche über den Kollegen aus der Buchhaltung auszugießen. Die Kollegen begriffen nicht, daß sie es nur einer so rätselhaften wie duldsamen Schamhaftigkeit zu verdanken hatten, daß sie sich von Abschaffel nicht bedroht fühlen mußten. Auf jedem Kantinentisch stand eine Plastikflasche mit Senf, und die Kollegen aus der Buchhaltung drückten sich, an den Rand der Kartoffeln, Senf in die Teller. Sie lachten über das Geräusch, wenn ein Flutsch Senf auf den Teller gespritzt wurde, und sie vergnügten sich schon wieder darüber, daß sie anläßlich des Geräuschs offenbar alle dasselbe dachten. Und weil das alles für sie ein Vergnügen war, wiederholte Holzmann noch einmal das Flutschgeräusch. Abschaffel senkte den Kopf tief über den Teller. Angespannt hielt er Gabel und Messer und beobachtete, wie die rote Rotkohlsauce und die braune Fleischsauce ineinanderflossen.
     
    Weil er am Abend mit Margot essen gehen wollte und Geld brauchte, ging Abschaffel nach Feierabend auf die Bank. In der Straße, in der die Bank war, waren seit Wochen Bauarbeiten im Gange. Teile des Gehwegs waren auf beiden Seiten aufgerissen und mit Sand wieder zugeschüttet worden. Das Gehen auf dem weichen gelben Sand gefiel ihm, und er lief langsam, um sich bei jedem Schritt einsinken zu lassen. In der Straße lagen überall Rohre herum, lange schwarze Rohre, die offenbar mit veralteten Rohren in der Tiefe der Baugräben ausgewechselt werden mußten. Langsam fuhren die Autos auf dem verbliebenen Fahrstreifen die Stadt hinaus, immer eng an den Fußgängern vorbei, für die ebenfalls nur ein schmaler Gehstreifen übriggelassen worden war. Die Bank, die sein Konto führte, war nicht mehr weit. Obwohl er schon seit vielen Jahren auf die Bank ging, wußte er noch immer nicht, wie er diesen Vorgang ausdrücken sollte, ohne jedes Mal eine Art von Scham zu empfinden. »Auf die Bank gehen« wollte er nicht sagen; das hörte sich zu großartig an für die lächerlichen Beträge, die er jeden Monat ein paarmal dort abhob von seinem Gehaltskonto. Der Satz: »Ich muß noch etwas Geld holen«, den viele seiner Kollegen verwendeten, gefiel ihm auch nicht, weil er so klang, als hätten sie alle immer viel Geld, von dem sie glücklicherweise immer nur wenig brauchten. Weil er den richtigen, ihm und seinen Verhältnissen angemessenen Satz bisher nicht hatte finden können, ging ein Besuch bei der Bank nicht ohne Peinlichkeiten ab. Er genierte sich, hundertfünfzig oder, was schon seltener war, zweihundert Mark abzuholen. Es kam ihm vor, als entblößte er sich jedesmal, indem er öffentlich zeigte, daß er zu den vielen Leuten gehörte, die eben nicht mehr abheben konnten als hundertfünfzig oder zweihundert Mark. Er hatte sich schon oft vorgestellt, wie die Bankangestellten, wenn er die gläsernen Türen der Filiale geöffnet hatte, einander zuflüsterten: Da kommt schon wieder dieser poplige Hundertfünfzig-Mark-Mann und macht uns Arbeit wegen nichts und wieder nichts. Besonders

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