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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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diese Welt zurückkehren, nicht im Ernst, nur im Spiel. Aber es war nie mehr dazu gekommen, weil schon der Gedanke daran bereits ein Spiel war. Auch jetzt, als er nach rechts in die Elbestraße einbog, tat er es nur aus Lust an der Erinnerung. Überheblich ging er an den Mädchen vorbei und wußte in jedem Augenblick, wie sehr er sich selbst spielte, wie künstlich sein Gesichtsausdruck war, wie falsch seine spähende, abschätzende Haltung. Er erinnerte sich an Stimmungen, die er als Siebzehnjähriger gehabt hatte, als er im Kino gewesen war und hinterher noch eine Weile versucht hatte, sich zu fühlen wie der edelste Mensch des Films, den er gerade gesehen hatte. Das ging immer eine Weile gut, etwa eine halbe Stunde lang, plötzlich klappte es nicht mehr, da schob sich die Person nach vorne, die er selbst war, da dachte und ging er wieder wie er selber, und der Film war vergessen. So war es jetzt mit den Bordellen und den Mädchen, die auf der Straße umherliefen. Er ging an ihnen vorbei, und es war, als vergesse er gerade einen Film über Bordelle und Frauen, den er vor einiger Zeit gesehen haben mußte. Er erlebte mehrfach die Rückkehr in die eigene Person, das Abstreifen von falschen Einzelheiten, die ihn nicht mehr beschäftigten. Plötzlich stand er vor den Schaufenstern eines Haushaltswarengeschäfts. Dutzende von Bügeleisen, Plastikeimern, Toilettenbürsten und Badeartikeln waren vor ihm ausgebreitet, hell angestrahlt und mit sauber gemalten Preisschildern versehen. Wie merkwürdig und unbegreiflich es war, daß sich inmitten des Bordellgebiets ein so ordentliches Haushaltswarengeschäft befand! Und es fiel ihm ein, daß er schon lange einen neuen Wasserkessel brauchte. In seinem alten Wasserkessel rollten eine Menge kleiner Kalksteine jedesmal hin und her, wenn er den Kessel schräg hielt. Und wirklich betrat er das Haushaltswarengeschäft und kaufte für neunundvierzig Mark einen chromblinkenden Wasserkessel aus reinem Stahl. Es war fast die Summe, die er früher, gerade um die Ecke, als Eröffnungsangebot den Mädchen gegeben hatte. Die Verkäuferin steckte den neuen Wasserkessel in eine große Plastiktüte, und Abschaffel verließ den Laden. Draußen sah er wieder die Mädchen, und er wünschte sich, stehenbleiben und ihnen zurufen zu können: Hier, einen neuen Wasserkessel habe ich gekauft, es tut mir leid, daß ihr das Geld nicht gekriegt habt, seht her!
    Stehenbleiben konnte er, rufen nicht. Er stand blöde da, er stand genauso da wie einer der angereisten Bahnhofstouristen, die sich in der Gegend herumtrieben, um an Dutzenden von Frauen verächtlich vorbeilaufen zu können. Die Mädchen kannten diese Sorte von Bordellspießern, und sie konnten sie nicht ertragen. Sie wandten sich von ihnen ab, weil sie genau spürten, wenn Männer sich trocken, kalt und gratis an ihnen befriedigen wollten. Sie wandten sich auch von Abschaffel ab, und er ärgerte sich, daß sie ihn so verwechselten. Er wollte das Mißverständnis unbedingt sofort aufklären und ihnen sagen, daß er sie nicht bloß anglotzen wollte, sondern sie eigentlich um Verständnis dafür bitten mochte, daß er nicht mehr zu ihnen kam. Bis er endlich bemerkte, wie überflüssig all seine Erwägungen waren. Guter Gott, dachte er, ich habe mir ja nur einen Wasserkessel gekauft, weiter nichts.
    Beschämt und erschöpft fuhr er mit der U-Bahn nach Hause. Weil er sich zu sehr mit der Klärung von Mißverständnissen beschäftigt hatte, die gar nicht geklärt zu werden brauchten, hatte er vergessen, warum er überhaupt noch einmal in die Stadt hineingelaufen war: Er wollte einkaufen. Er schlüpfte kurz vor der Schließung in einen Supermarkt bei ihm in der Nähe. An der Metzgereitheke räumten die Verkäuferinnen schon die Würste aus den Auslagen, um sie über Nacht in Kühlschränken zu verstauen; im hinteren Teil wurde bereits der Boden gewischt. Margot wollte nicht mehr den billigen italienischen Chianti trinken; nach Chiantiabenden klagte sie am nächsten Tag fast immer über starke Kopfschmerzen. Deswegen trank sie seit einiger Zeit naturreinen französischen Rotwein, der allerdings teuer war. Die Flasche kostete gewöhnlich acht bis neun Mark. Abschaffel beschloß, eine Flasche davon zu kaufen, und eine zweite in seiner Plastiktüte, in der er den Wasserkessel trug, verschwinden zu lassen. Die Stimmung im Supermarkt war gut. Die Verkäuferinnen waren fast ausschließlich mit Aufräumen beschäftigt. Der Wasserkessel war mit viel Papier

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