Abschalten: Die Business Class macht Ferien (German Edition)
ist«, fährt Ruth Zumbühl fort, »als ob er endlich das erreicht hätte, was er immer wollte, und jetzt das Leben genieße.« Sie steckt das Häppchen aus Reis und rohem Thunfisch in den Mund, als ob sie schon immer mit Essstäbchen gegessen hätte.
Caroline Mayer spült das zähe Nori mit etwas japanischem Mineralwasser runter. »Wie schön«, gelingt es ihr zu antworten.
»Früher musste ich froh sein, wenn er um zehn Uhr abends auftauchte. Jetzt steht er oft schon vor sechs in der Küche und fragt, ob er etwas helfen könne.«
»In der Küche?«, staunt Caroline Mayer. Sie versucht, mit den Essstäbchen ein Scheibchen Ingwer aus einem hauchdünnen Porzellanschälchen zu fischen.
»Ach, das habe ich dir noch gar nicht erzählt: Erich hat das Kochen entdeckt.«
»Und deine Frau Méndez?«
»Räumt auf. Du weißt ja, wie Männer die Küche hinterlassen.«
Caroline Mayer weiß das nicht. Aber sie nickt.
»Wir unternehmen jetzt auch Dinge an den Wochenenden. Ausflüge, Wanderungen. Kürzlich waren wir auf der Rigi.«
Caroline Mayer hat jetzt wieder den Mund voll. Sie kann ihre Überraschung nur dadurch ausdrücken, dass sie die Augen weit aufreißt.
»›Jetzt bin ich bald fünfzig und war noch nie auf der Rigi‹, hat er an einem Sonntagmorgen um halb acht gesagt. Und los ging’s. Er, der früher den halben Sonntag im Bett lag.«
Caroline Mayer verzieht das Gesicht. Sie hat die Schärfe des eingelegten Ingwers unterschätzt. Oder war es das Wasabi?
»Nur schade, dass das Wetter nicht besser war. Man sah keine zehn Meter weit. Das nächste Mal will er vorher anrufen.«
»Ihr geht jetzt öfter auf die Rigi?« Caroline Mayer hat jetzt runtergeschluckt.
»Nicht nur. Auch an andere Orte. Verkehrsmuseum, Technorama, Ballenberg, Suisse Miniature. Ich glaube, er will alles nachholen, was er verpasst hat. Wollen wir so ein japanisches Bier teilen?«
Caroline Mayer hätte eigentlich lieber ein ganzes gehabt. Aber sie nickt.
»Früher sah er die Kinder kaum, weil er nie nach Hause kam. Jetzt ist er fast mehr daheim als die Kinder.«
Ruth Zumbühl prostet Caroline Mayer mit ihrem halben Bier zu. »›Der Fisch muss schwimmen‹, sagt Erich immer.«
»Auf den Sonntagsausflügen?«
Ruth Zumbühl nickt. Caroline Mayer bestellt noch ein japanisches Bier.
Als an diesem Abend Jürg Mayer kurz vor Mitternacht ins Schlafzimmer schleicht, murmelt seine Frau: »Wirst du demnächst befördert?«
»Sieht nicht so aus«, antwortet er zerknirscht.
Jürg Mayer kann lange nicht einschlafen. Ihm ist, als habe Caroline »Gott sei Dank« gerufen.
Sorgen um die Zukunft
»Und? Wie fühlst du dich?«
»Ach, wie immer in diesen Tagen: etwas mulmig.«
»Verständlich.«
»Je näher es rückt, desto nervöser wird man.«
»Jetzt ist es ja dann bald raus. Wenn du weißt, womit du es zu tun hast, kannst du dich auch darauf einstellen.«
»Ach, ich weiß nicht. Die Ungewissheit ist schon schlimm, aber die Gewissheit ist meistens auch kein Zuckerschlecken.«
»Hast du wirklich keine Ahnung?«
»Keinen blassen Schimmer. Aber ich rechne mit dem Schlimmsten.«
»Schlimmer als damals mit den Ehewochenenden kann es ja nicht werden.«
»Ehewochenenden?«
»Als er jedes Wochenende, in dem die Zahl acht vorkam, total auf dich einging.«
»Die Togetherness-Weekends. Zweitausendundzwei. Neun Wochenenden mit acht! Vier davon Wellness im Schwarzwald!«
»Mit Partnermassage!«
»Hör auf!«
»Pardon.«
»Das war gar nichts gegen die Gourmet-Saturdays.«
»Als er gekocht hat?«
»Jeden sechsten Samstag. Weißt du, wie viele das sind im Jahr?«
»Bestimmt mehr, als man denkt.«
»Acht! Acht Mal im Jahr: ›Haben wir eine gusseiserne Pfanne mit gutschließendem Deckel?‹, ›Wieso haben wir keine Spicknadel?‹, ›Womit streicht man einen Teelöffel Salz?‹, ›Was ist ein Schaumlöffel?‹, ›Wo sind die Teller, Tassen, Schüsseln, Pfannen, Messer, Gabeln?‹ Acht Mal im Jahr bis weit nach Mitternacht versuchen, mit verschiedenen Umweltgiften die Küche wieder halbwegs sauber zu kriegen.«
»Und dann musstest du das Zeug ja auch noch essen.«
»Und loben!«
»Relax. Schlimmer kann es nicht werden.«
»Das dachte ich damals auch. Und dann kam das Work-Life-Balance-Jahr.«
»Ach ja, das war, als er manchmal nicht so spät nach Hause kam.«
»Unangemeldet! Da sitzt du gemütlich mit den Kindern vor dem Fernseher und isst eine Fertigpizza, und wer kommt nach Hause und ruft schon im Korridor: ›Mmmmh, wie das
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