Abschied aus deinem Schatten
verstummte, den Kopf zur Seite geneigt. „Sie haben Augen, die einen verhexen, tief blickende Augen, die die Farbe wechseln. Letztes Wochenende auf dem Boot waren sie blau, heute sind sie grün.” Wieder hielt er inne. Sie merkte, wie ihre Halsschlagader pulsierte. Hoffentlich fiel es ihm nicht auf! „Süßer Mund, fast kindlich unschuldig. Vor Ihnen ist noch keiner schreiend weggelaufen! Im Leben nicht!” Er ließ sich wieder nach vorn kippen, stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und blickte sie, das Kinn in die Handfläche geschmiegt, unverwandt lächelnd an.
Rowena blieb regungslos sitzen, und ihr war, als nehme die Schlange in ihr mehr und mehr an Umfang zu, als gleite sie mit deutlich spürbaren, rhythmischen Bewegungen durch ihren Unterleib. So beschrieben zu werden, wie Reid es eben getan hatte, kam Rowena merkwürdig vor. Es war einfach nicht glaubhaft. Ihr schien, als höre sie einer erfundenen Geschichte zu. Nicht seine Worte faszinierten sie, sondern die darin liegende Absicht.
„Ich weiß, Sie glauben mir nicht, weil sie überhaupt keine Ahnung haben, wie Sie in Wirklichkeit aussehen. Ein Jammer, wie ich finde. Anderseits sind mir die Menschen, die genau wissen, wie gut sie aussehen, ein Gräuel. Ihnen nicht auch?”
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht”, log sie.
„Ach, klar haben Sie das!” neckte er sie. „Geben Sie’s ruhig zu!”
Diesmal war sie es, die stumm blieb, sich den Kopf zerbrach und in ihren Erinnerungen nach einer ähnlichen Situation wie dieser kramte, obwohl sie wusste, dass es keine gab. In ihrem Leben war nichts passiert, was sie auf diesen Mann hätte vorbereiten können.
In diesem Augenblick tauchte Kip mit der Kaffeekanne im Türrahmen auf. Rowena sah zu ihm hin und wehrte ihn mit einem kaum merklichen Kopfschütteln ab. Er deutete einen Pfadfindergruß an, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück ins Lokal. „Wir tauschen hier so etwas wie verbale Zärtlichkeiten aus”, erklärte sie, den Blick wieder auf Reid gerichtet. Sie hatte das Gefühl, als strahle ihr Körper eine derartige Wärme aus, dass gleichsam ganze Hitzewellen in die schwüle Luft aufflimmerten. „Sie sind ein ganz gerissener Hochstapler!”
„Das ist doch keine Hochstapelei”, widersprach er, fast gekränkt durch diese Anspielung, „sondern die Wahrheit! Und was den Vergleich mit verbalen Zärtlichkeiten angeht”, fuhr er fort und lächelte nun lausbübisch, „das halte ich für eine besonders interessante Betrachtungsweise. Fassen Sie meine Beobachtungen etwa so auf?”
„Nur bei Beobachtungen belassen Sie es aber nicht!” Sie zündete sich erneut eine Zigarette an, wobei sie das mittlerweile deutliche Zittern ihrer Hände zu überspielen suchte. Die Schlange, so schien es, rieb sich sanft mit den Schuppen an ihrem Inneren; wo immer die gespaltene, hin und her zuckende Zunge auf Widerstand stieß, löste sie winzige Schauer aus. Die Versuchung, Reid zu berühren, war übergroß; nur mit äußerster Anstrengung blieb Rowena still sitzen, und für einen Augenblick stand sie kurz davor, einfach zu ihm auf die andere Tischseite zu wechseln, sein Gesicht zu umfassen und ihn zu küssen. Bislang hatten Zwänge, ob gesellschaftliche oder auch selbst auferlegte, ihr ganzes Leben bestimmt. Sie hielt sich für das Gegenstück ihrer Schwester. Claudia hatte sich nie um diese Zwänge gekümmert und stets mit beiden Händen alles, wonach ihr der Sinn stand, an sich gerafft. Rowena hingegen, pflichtbewusst wie sie war, hatte immer geglaubt, man müsse sich alles im Leben verdienen. Könnte ich einmal nur etwas forscher sein und nach meinen Empfindungen handeln, schoss es ihr durch den Kopf. Doch das ging natürlich nicht. Gekünstelte Zweideutigkeiten auf hohem Niveau – zu mehr reichte es nicht bei ihr.
„Das stimmt”, räumte er ein, den Blick auf ihren Mund geheftet. „Aber falls Ihnen das auf die Nerven geht, höre ich sofort auf.”
Sie lachte rau auf. „Sie und aufhören, Reid? Nie und nimmer! Dafür amüsieren Sie sich zu gut!”
„Sie sich aber auch, Rowena!”
„Für Sie ist das doch ein altbekanntes Spiel! Aber vielleicht haben Sie es zu oft gespielt.” Sie merkte, dass ihre Worte einen knappen, scharfen Unterton annahmen, so als spreche sie einen strengen Tadel aus. Der Anflug von Lockerheit, der bislang das Gespräch beherrscht hatte, war verschwunden, doch Rowena tat es nicht Leid. In der Stille, die nun folgte, war deutlich das Prasseln des Regens auf
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