Abschied aus deinem Schatten
Seitenscheitel. Reid wirkte wie ein Ausstellungsstück in einer Kunstgalerie, faszinierend wie ein Meisterwerk, geschaffen von einem Künstler auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Kraft. Tief in Rowenas Leib erwachte etwas zum Leben, als löse sich eine Schlange langsam aus ihrer zusammengerollten Starre.
„Weil Sie da sind”, fuhr er fort, „komme ich lieber hierher zum Essen. Es ist etwas völlig anderes, als irgendwo ganz allein essen zu gehen. Sie kennen das sicher auch, diese todlangweiligen Situationen, wenn man sich aus purem Selbsterhaltungstrieb hinter irgendeiner Lektüre versteckt, da man nicht gleich auffallen möchte.”
Sie nickte, schaute ihm auf die Lippen, während er sprach, sah andeutungsweise, wie sich seine Zunge im Munde bewegte und die Wörter formte. „Wenn ich unterwegs bin”, erzählte sie ein wenig benommen, „macht es mir nichts aus, allein zu essen. Allerdings nehme ich immer etwas zu lesen mit.”
„Jammerschade, dass das Wetter nicht mitspielt.” Er wandte sich um, sah in den Regen hinaus und drehte sich wieder zu ihr. „Ich hatte mich schon auf unsere Bootsfahrt gefreut. Zum Dinner sind Sie wohl nicht zufällig frei, nehme ich an, oder?”
„Heute Abend nicht, nein.” Ihre Absage erfolgte wie selbstverständlich, obgleich sie nichts vorhatte für den Abend. In Gedanken ließ sie sich nackt auf seinen Schoß sinken; ihre Hände fingen an zu zittern, ihr Inneres schien sich kaum merklich zu weiten. Sie wollte ihn berühren, die Augen schließen, sich an ihn schmiegen, ihn mit Haut und Haaren aufnehmen.
„Kommt etwas kurzfristig, ich weiß. Vielleicht ein andermal diese Woche?”
„Vielleicht.”
Er lächelte. „Ich soll Sie anrufen, nicht wahr? Und dann sehen wir weiter?”
„Genau.” Sie erwiderte sein Lächeln. Ob er wohl wusste, was er in ihr auslöste? Wahrscheinlich nicht. Denn sie war eine wahre Meisterin darin, ihre Gefühle zu verbergen; nicht umsonst hatte sie jahrelang trainiert, weil es gegen Mutter und Schwester nur eine Abwehrwaffe gab: eine ausdruckslose Miene, wurde man auch noch so sehr provoziert.
„Soll mir recht sein. Verbleiben wir so.”
„Sind Sie immer so entgegenkommend, Reid, oder geschieht das einzig und allein meinetwegen?”
„Oho!” Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. „Könnten Sie meine Exfrau fragen, würde sie Ihnen zweifellos mitteilen, was für ein Griesgram ich bin. Ihr Lieblingsattribut für mich war ‚mürrisch‘, ‚miesepetrig‘ kam gleich danach. In Wirklichkeit kommt es darauf an, in wessen Gesellschaft ich mich befinde, und dementsprechend reagiere ich dann. Geht den meisten so. Die Antwort auf Ihre Frage lautet somit: ja und nein.”
„Will heißen: allein meinetwegen.” Sie nahm einen tiefen Lungenzug und hielt die Luft an.
„Teilweise auch meinetwegen.”
„Warum?” fragte sie durch eine Wolke von ausgestoßenem Zigarettenqualm.
„Weil Sie mir gefallen, Rowena. So schwierig ist das doch nicht.”
„Finde ich schon!”
„Nein, durchaus nicht. Gegenüber den Menschen, die wir mögen, benehmen wir uns gut.”
„Es heißt aber doch, wir verletzen immer die, die wir mögen! Und ich habe Ihnen keinerlei Anlass gegeben, mich zu mögen.”
Er hob die Brauen, als habe sie ihn gerade eines Verbrechens bezichtigt. „Gefühle sind selten logisch. Normalerweise entwickeln sie eine Eigendynamik.”
„Gefühle?” Endlich konnte Rowena den Blick von seinen Augen losreißen und sich auf den Aschenbecher konzentrieren. Während sie die Zigarette ausdrückte, spürte sie deutlich, wie ihr Herz schneller schlug, wie etwas im Scheitelpunkt ihre Schenkel weicher, heißer wurde. Wenn dies ein Traum wäre, würde sie nun aufstehen und Reid mit gerafftem Rock rittlings auf den Schoß schlüpfen. „Welche Gefühle?” Sie hob die Kaffeetasse und beobachtete ihn über den Tassenrand hinweg, den Wohlgeschmack der französischen Röstmischung auf der Zunge.
„Wie gesagt, Sie gefallen mir. Außerdem”, fügte er beinahe verschmitzt hinzu, „schaue ich Sie gern an!”
Sie wurde rot vor Verlegenheit.
Er wippte mit dem Stuhl hin und her und hielt sich mit einer Hand am Tisch fest. „Sieht mir ganz so aus, als hielten wir das Anschauen beide für einen angenehmen Zeitvertreib!”
„Sie sind verrückt!” sagte sie leise. „Die Leute rennen schreiend weg, wenn sie mich nur sehen!”
Reid sah sie mit großen Augen an. „Oh, das bezweifle ich. So bezaubernd, wie Sie sind!” Er
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