Abschied aus deinem Schatten
Das Vertrauen war zerstört. Entschuldigungen kamen zu spät; der Schaden war nicht wieder gutzumachen. Erst die beste Freundin in aller Öffentlichkeit bloßstellen und danach um Vergebung bitten – so ging das nicht. Rowena riss die Karte in Fetzen und warf die Schnipsel in den Mülleimer.
Als das Telefon läutete, zuckte ihr Kopf ruckartig in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Aus Furcht, der Anrufer könne Reid sein, ließ sie den Apparat weiterschrillen und hielt sich die Ohren zu, denn das gellende Läuten bohrte sich regelrecht durch ihr Hirn. Mein Gott, war das eine Tortur! Sie musste sich unbedingt eine Rufnummernüberprüfung installieren lassen. Dann wüsste sie sofort, wer am anderen Ende war, und brauchte eine Folter wie diese nicht zu ertragen. Nach dem vierten Klingelton schaltete sich der Anrufbeantworter ein und spielte das Begrüßungssprüchlein ab. Dann erfolgte der Piepton, und Pennys Stimme war zu hören. „Ich hoffe, du hast meine Karte erhalten”, begann sie zögerlich. „Heute Morgen bin ich extra bei dir vorbeigefahren und habe sie dir eigenhändig vor die Tür gelegt, damit du sie auch wirklich gleich findest. Was passiert ist, Ro, das wollte ich nicht. Mir ist wohl alles über den Kopf gewachsen … das mit Kip, mit dem Restaurant, alles! Bitte, ruf mich an! Wir müssen unbedingt miteinander reden. Ich hätte dir schon vor geraumer Zeit einiges sagen sollen und weiß selbst nicht, wieso ich es nicht getan habe. Irgendwie hab ich mich in meiner ganzen Geschichte verrannt. Und wegen neulich Abend … da habe ich mich wirklich gewaltig danebenbenommen. Mir ist richtig schlecht deswegen. Glaub mir bitte, es tut mir unendlich Leid. Wir müssen uns unbedingt sprechen, also melde dich! Ja? Bitte! Also, bis dann! Wir hören voneinander. Tschüs.” Dann hatte Penny aufgelegt.
Niedergeschlagen hockte Rowena da, erneut von Trauer und Entsetzen erfasst. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen, tat es aber nicht – sie war in der Vergangenheit nie fortgelaufen und würde es auch in der Zukunft nicht tun. Es lag in ihrer Natur, bis zum bitteren, blutigen Ende durchzuhalten. Eins allerdings konnte sie in die Tat umsetzen: am Nachmittag die Beratungsstelle der SNET aufsuchen und diese beauftragen, bei ihrem Privatanschluss sowie im Lokal die Rufnummernüberprüfung einzurichten. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, Anrufe von Penny oder Reid im Restaurant jeweils durch Ian oder Terry entgegennehmen und abblocken zu lassen. Zwar hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie sie sich verhalten sollte, falls Reid sich wieder im „Le Rendevouz” blicken ließ, doch damit musste sie fertig werden, wenn es die Lage erforderte. Im Augenblick konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn einen Plan oder eine Strategie für den Umgang mit Menschen entwerfen, mit denen sie nichts mehr zu schaffen haben wollte.
Mittlerweile zeigte die Uhr zwanzig nach neun. In weniger als zwei Stunden begann eigentlich ihr Dienst im Lokal, doch wenn sie nicht endlich die Kopfschmerzen bekämpfte, würde sie es nie und nimmer pünktlich schaffen. Im oberen Badezimmer sichtete sie die zahlreichen Fläschchen und Tinkturen, die Claudia sich hatte verschreiben lassen. Bislang hatte Rowena sich nicht die Mühe gemacht, einige davon wegzuwerfen, weil sie der Meinung gewesen war, dass ihr das eine oder andere eventuell eines Tages nützlich sein könnte. Ihre Schwester hatte an einer ganzen Reihe von Beschwerden gelitten, an Schlafstörungen, Migräne, Angstzuständen und Depressionen, und deswegen verschiedenste Mittel verordnet bekommen.
Sie stieß auf ein fast volles, mit dem Vermerk „gegen Migräne” versehenes Döschen Fiorinal-C, spülte mit einer weiteren Tasse Wasser eine Kapsel hinunter und steckte die restlichen in die Handtasche.
Schließlich stand sie unter der Dusche, stellte die Düsen des Duschkopfs auf einen möglichst sanften Strahl ein und lockerte mit dem brühend heißen Wasser ihre Gelenke. Als sie sich kurze Zeit später angezogen hatte, ließ der Kopfschmerz bereits nach. Mit ihren nach wie vor fahrigen Händen konnte sie jedoch lediglich ein provisorisches Make-up auflegen – ein wenig die dunklen Stellen unter den Augen aufhellen, etwas Rouge und ein bisschen Lippenstift. So schlecht, wie sie sich fühlte, sah sie nun auf keinen Fall mehr aus, allemal eine bemerkenswerte Leistung. Mit einem Quäntchen Glück hielt sie vielleicht den Ansturm auf den Lunch ohne ein
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