Abschied aus deinem Schatten
begingen, als sei dies gleichsam ihre zweite Natur? Zugegeben, sie war von diesen Menschen verletzt worden, aber deswegen wollte sie nicht sterben!
Ganz langsam kam sie schließlich auf die Füße, schlurfte ins Bad und machte Licht. Die gleißende Helligkeit der Glühlampe versengte ihr beinahe die Pupillen, sodass sie das Licht gleich wieder löschte. Von dieser abrupten Bewegung wurde ihr noch übler. Sie würgte drei starke Tylenol-Kapseln hinunter, spülte mit etwas Flüssigkeit nach, holte die Alka-Seltzer-Tabletten aus dem Erste-Hilfe-Schränkchen und tastete sich Schritt für Schritt nach unten – ein Marsch, der nach ihrem Gefühl mindestens eine Stunde dauerte und bei dem sie sich beinahe beide Hüften verrenkte.
Überall auf dem Fußboden lag Zigarettenasche. Auf der Küchenarbeitsplatte stand die unverschlossene Wodkaflasche. Im Spülbecken, in einer übel riechenden bräunlichen Brühe, trieb eine erkaltete Zigarettenkippe. Bemüht, den Kopf gerade zu halten und sich nur ganz vorsichtig zu bewegen, warf Rowena den nassen Stummel in den Mülleimer, ließ das Schmutzwasser ablaufen, spülte das Becken aus, schaltete die Kaffeemaschine ein und warf dann zwei der Alka-Seltzer-Tabletten in ein Glas Wasser. Obschon ihr das zischende Gebräu unangenehm in die Nase stach, leerte sie das Glas in einem Zug.
Auch wenn sie mit Sicherheit keinen Bissen hinunterbekommen würde, war ihr klar, dass sie etwas essen musste, und sie hoffte, mit ein paar trockenen Toastscheiben das in ihrem Stoffwechsel zirkulierende Gift neutralisieren zu können. Großer Gott! stöhnte sie erneut. In ihrem Kopf wummerte ein dermaßen dämonisches Dröhnen, dass ihr war, als wären zwei Riesenfäuste dabei, ihr den eierschaldünnen Hirnkasten einzuschlagen. Gern hätte sie den Fußboden gefegt, traute sich jedoch nicht. Stattdessen schlich sie im Schneckentempo zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Das Einzige, was nicht wehtat, waren die Zehen. Erneut revoltierte ihr Magen, als sie den Duft des durchtröpfelnden Kaffees roch. Torkelnd suchte sie das Bad auf und schaffte es gerade noch, sich in das Handwaschbecken zu übergeben. Mit tränenden Augen reinigte sie das Becken und spülte sich den Mund aus.
Als sie in die Küche zurückkehrte, hatten sich die Kopfschmerzen noch verschlimmert. Die Augen fest geschlossen, die eine Hand auf der Arbeitsplatte, in der anderen eine halb volle Tasse schwarzen Kaffee, wartete sie, bis der Toast fertig war, und spülte ein paar Bissen des heißen, trockenen Brotes mit dem braunen Gebräu hinunter. Danach war ihr schon etwas wohler. Das Tylenol zeigte Wirkung, das Pochen in den Schläfen ließ nach. Rowena füllte die Tasse nach und setzte sich wieder an den Küchentisch.
Vierzig Minuten später fühlte sie sich wieder so weit hergestellt, dass sie durch den Flur gehen und die Haustür öffnen konnte, um die Times zu holen, die an der Schwelle in einer blauen Kunststoffbanderole lag. Unter der Zeitung fand Rowena einen an sie adressierten Briefumschlag mit ihrem Namen, der in Blockbuchstaben aufgedruckt war. Sie nahm die Zeitung und das Kuvert von der Fußmatte und schlurfte mit dröhnendem Kopf in die Küche zurück.
Furchtsam öffnete sie den Umschlag. Was, wenn er von Reid stammte? Sie mochte nicht daran denken. Doch ein Blick auf die kitschige Kunstkarte im Kuvert genügte, um zu wissen, wer sie geschickt hatte. Typisch Penny: eine mit Wasserfarben gemalte Friedenstaube und dazu, bunt wie ein Regenbogen, das Wort „Frieden”. Außerdem hatte sie geschrieben: „Ich wollte dich wirklich nicht kränken, und es tut mir aufrichtig Leid. Bitte, verzeih mir! Wir können eine gute, lange Freundschaft doch nicht auf diese Weise enden lassen! Rufst du mich an? Mit lieben Grüßen, Penny.”
Rowena war hin- und hergerissen. Mit einem einzigen Telefonanruf hätte sie alles wieder in Ordnung bringen und sich Pennys Unterstützung sichern können. Trost und Verständnis, die Dinge, die ihre Freundin ihr früher jederzeit bereitwillig hatte zuteil werden lassen, hätte sie gut gebrauchen können; die mollige Wärme von Pennys mütterlicher Umarmung konnte sie nahezu körperlich spüren. Dann aber fiel ihr ein, wie sie seit Claudias Tod von Penny behandelt worden war. Sie erinnerte sich an die abscheuliche Szene im Lokal vom vergangenen Freitagabend, und ihr wurde klar, dass sie nicht anrufen würde. Wie sollte sie sich einer Person anvertrauen, von der sie jahrelang hintergangen worden war?
Weitere Kostenlose Bücher