Abschied aus deinem Schatten
intelligenten und nicht so sensiblen Jungen wäre das durchaus nicht ausgeschlossen gewesen.”
„Kip ist kein Dummkopf. Der wäre von allein darauf gekommen, wer Schuld hatte und wer nicht.”
„Das hat sie inzwischen erkannt und heute extra früher Feierabend gemacht, um sich nachmittags mit ihm zu treffen und die Sache auszudiskutieren.”
„Das wurde auch langsam Zeit, nicht wahr? Hat ja nur dreizehn oder vierzehn Jahre gedauert.”
„Was soll diese feindselige Tour, Ro? Sieht dir überhaupt nicht ähnlich.”
„Vielleicht doch”, konterte sie, während sie nach ihren Zigaretten griff. „Vielleicht sieht mir das ganz genau ähnlich! Schließlich habe ich mich nie zuvor in einer solchen Lage befunden. Woher sollen wir also wissen, dass meine Reaktion nicht haargenau meinem Charakter entspricht?”
„Wir wissen es ja auch nicht. Hör mal, mir ist klar, dass du ’ne Dosis Nikotin brauchst – aber bevor du dir eine Zigarette ansteckst, hättest du da vielleicht die Freundlichkeit zu warten, bis ich mit dem Essen fertig bin?”
„Oh, entschuldige, sicher!” Rowena wollte gerade Tee nachschenken, als das Telefon läutete. Sie ignorierte das Klingeln und widmete sich angelegentlich dem Tee, wobei sie sehr darauf achtete, ihre Hand ruhig zu halten.
„Wie hältst du das aus? Wenn bei mir in einem fort das Telefon bimmelte – das würde mir ziemlich auf die Nerven gehen.”
„Das war durchaus ernst gemeint, als ich dir vorhin sagte, ich sei nicht in der Stimmung für irgendwelche Gespräche.” Sie war selbst beeindruckt von ihrer Gelassenheit. In der nun folgenden Stille vernahmen sie das Sprüchlein des Anrufbeantworters und danach, kaum hörbar, eine Frauenstimme. Sie wussten beide, wem die Stimme gehörte.
„Rede doch mit ihr! Sie ist wirklich vernünftig geworden!”
„Menschenskind, Mark! Sie hat mir unter anderem unterstellt, ich wolle ihr den Sohn wegnehmen! Seit meinem letzten und außerordentlich unerfreulichen Zusammentreffen mit ihr sind erst ein paar Tage vergangen. Noch habe ich das nicht verwunden! Falls ich es überhaupt je schaffe! Ich weiß, sie tut dir Leid, aber versuche bitte, das Ganze aus der richtigen Perspektive zu sehen! Wenn hier jemandem übel mitgespielt worden ist, dann nicht ihr, sondern mir!”
„Sie hat gelogen, aber die Lüge wurde zu einer Art Monster aufgeblasen und hat alles zerstört.”
„Netter Vergleich.”
„Vielleicht ist jetzt nicht die richtige Gelegenheit, um darüber zu reden”, konstatierte er nüchtern. „Jedenfalls bist du heute nicht ansprechbar.”
„Stimmt genau. Ich bin sogar zu erledigt, um das Ganze überhaupt richtig zu verstehen.” Und eine Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen. „Sie hat dir doch sicher wieder diesen ausgesprochenen Schwachsinn erzählt, dass ich mich ihrer Ansicht nach mehr und mehr wie Claudia benehme.”
„Du hast Recht, du bist wirklich zu müde, um dies alles aufzunehmen. Lesen wir lieber unsere Glückskekse, und dann breche ich auf.”
„Entschuldige, dass ich dich so angefahren habe. Aber meinst du nicht auch, dass ich mit Fug und Recht sauer bin? Wie käme ich dazu, alles einfach abzutun, zu vergeben und zu vergessen, nur weil sie sich plötzlich freundlich gibt?”
„Da ist was dran. Wahrscheinlich hatte ich mir das Ganze etwas leichter vorgestellt. Offenbar lässt sich der Bruch doch nicht so einfach kitten.”
„Ich finde es allerdings merkwürdig, dass du des Teufels Advokat spielst. Ich dachte, du magst Penny nicht mal sonderlich gern.”
„Wann soll ich das gesagt haben? Das habe ich
nie
gesagt, sondern nur, dass ich sie nach meinem Gefühl nicht richtig kenne und dass sie jede Menge emotionalen Ballast mit sich herumschleppt. Und damit habe ich, wie sich herausstellt, den Nagel auf den Kopf getroffen. Dass ich sie nicht mag, habe ich nie behauptet, denn das stimmt nicht. Ich kann sie durchaus leiden.”
„Offenbar habe ich deine Bemerkungen missverstanden.”
„Was ist eigentlich los, Rowena?” fragte er, nun bereits zum zweiten Mal. „Geht es hier tatsächlich um Penny, oder verheimlichst du mir etwas?”
Er bot ihr die Chance, sich die Last von der Seele zu reden, und für einen Moment war sie mehr als versucht, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Das Video, so würde er sagen, sei doch gar nicht so wichtig; sie messe ihm viel zu große Bedeutung zu, und außerdem sei Reid noch lange kein Mörder, nur weil er sich zu einigen unklugen Dingen habe hinreißen lassen.
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