Abschied aus deinem Schatten
Doch sie konnte sich einfach nicht dazu aufraffen, Mark zu gestehen, dass sie sich – wenn auch nur kurz – in einen Mann verliebt hatte, der ihr den Hof machte, obwohl er eine Affäre mit ihrer Schwester gehabt hatte, auch wenn er dies bestritt. Es war eine ziemlich anrüchige Geschichte mit einem ausgesprochen makabren Beigeschmack.
Ihr fiel ein, was Marlow in Joseph Conrads Novelle
Herz der Finsternis
sagt: „… und mir wurde aufgetragen, ich solle dem Albtraum meiner Wahl gegenüber loyal sein.” Genau so fühlte sie sich jetzt: dass es irgendwo ein Drehbuch geben müsse, nach dessen Anweisungen sie ihre Rolle zu spielen habe. Und nach diesem Skript musste sie die Existenz des Videos und ihre eigene beschämende Blauäugigkeit geheim halten.
„Es wird geraume Zeit dauern, bis ich zu einem Gespräch in der Lage bin. Mag sein, dass Penny sich die ganze Geschichte mit einem Befreiungsschlag vom Hals geschafft hat. Ich aber werde wohl etwas länger brauchen als nur ein paar Tage, um das, was sie gesagt und getan hat, zu verarbeiten. Mark, ich habe ihr vertraut! Und dieses Vertrauen hat sie enttäuscht. Ginge es hier um dich, wärst du wahrscheinlich auch nicht begeistert, wenn ich dir vorschlüge, du solltest vergeben und vergessen. Das ist schlichtweg unrealistisch.”
„Okay. Du hast Recht. Es war nicht richtig durchdacht. Tut mir Leid. Her mit den Glückskeksen, und dann bin ich weg!” Er nahm sich einen und reichte ihr den anderen.
Zu erschöpft, um den Witz der Wortspiele und Rätsel auch nur ansatzweise zu begreifen, saß sie da und starrte das bröselige Plätzchen auf ihrer Handfläche an.
„Der Glaube kann Berge versetzen”, las Mark vor. „Aber nur, wenn der Berg in Stimmung ist. Dass der Hebel das hervorragendste Werkzeug des Mannes sei, ist umstritten. Parken Sie nie Ihren Wasserbüffel in einer Ladezone. Was dem einen sein Yak, ist dem anderen sein Dromedar.”
Sie riss sich aus ihrer Lethargie und sah, wie Mark den schmalen Papierstreifen senkrecht hielt und mit zusammengekniffenen Augen so tat, als müsse er eine mikroskopisch kleine Schrift entziffern. „Draußen fliegt die Welt in Fetzen, lasst uns drinnen Speck ansetzen!”
Rowena brach in schallendes Gelächter aus, worauf Mark ihr einen missbilligenden Blick zuwarf. „Würdest du mich bitte nicht unterbrechen!” Dann drehte er den Streifen um und rezitierte weiter. „Wenn im Mai der Flieder blüht, der Farmersfrau das Mieder glüht.” Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Und was steht auf deinem?”
„Du bist unverbesserlich.” Sie konnte sich vor Lachen kaum halten und merkte, dass sie nah daran war, in Tränen auszubrechen. Während sie sich die Augen mit einem Papiertuch abtupfte, rang sie nach Fassung.
„Oh, du aber nicht, Miss Reptil 1995! Was steht da, wenn ich bitten darf!”
„Hochmut kommt vor dem Fall!” Sie legte die Stirn in Falten und griff nach ihrer Zigarette.
„Was für ein dämlicher Glücksspruch soll denn das sein? Das ist ein Sprichwort und kein Spruch! Wir sollten unser Geld zurückverlangen!”
„Was dem einen sein Yak, ist dem anderen sein Dromedar?”
„Na ja, Improvisieren ist gar nicht so einfach. Bedarf jahrelanger Übung.” Er packte die leeren Verpackungen in die Tragetasche, die er vom Schnellrestaurant mitgebracht hatte. „Das schmeiße ich auf dem Heimweg in den Mülleimer.”
„Danke für das Essen!” Sie zögerte und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Bitte, Mark, sieh die Sache auch mal von meiner Warte aus. Penny kann gewiss jede Menge Gründe anführen, die ihr plausibel erschienen. Aber mir hat sie fünf Monate lang das Leben zur Hölle gemacht. Zu erwarten, das ich all das nun innerhalb von fünf Minuten vergesse, ist nicht fair.”
„Ich dachte, ich könnte mich als Vermittler einschalten, weil ihr beide so einen unglücklichen Eindruck machtet. Sieht so aus, als hätte ich’s etwas übertrieben.”
„Man kann die Menschen nicht zur Vernunft zwingen, mein Lieber. Das müsstest doch gerade du wissen!”
„Allerdings.”
„Ich sag es dir klipp und klar, Mark. Es ist aus. Was soll ich mit einer Freundin, der ich nicht mehr vertraue? Einer, die mich in aller Öffentlichkeit grün und blau geprügelt hat? Kannst du dir vorstellen, wie man sich da fühlt?”
Er verzog das Gesicht. „Mein armes Püppchen! Und ich komme hier mit missionarischem Eifer angesegelt! Kein Wort sage ich mehr zu dem Thema! Du qualmst jetzt dein Zigarettchen zu Ende, und
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