Abschied aus deinem Schatten
gegenüberstanden, wie?”
„Das kann man wohl sagen!”
„Pech!” Nachdem Ian einige Sekunden das glimmende Ende seiner Zigarette betrachtet hatte, richtete er seinen Blick auf die Zigarette in Rowenas Hand. „Claudia besaß die höchst unangenehme Angewohnheit, in verbotenen Revieren zu fischen.”
Das glich der Aussage jener Rechtsanwältin beinahe aufs Wort. Wie hieß sie noch? Es fiel Rowena nicht ein, aber es spielte auch keine Rolle.
„Und jedermann hier wusste von den Videos?”
„Eigentlich bloß ich. Die Hauptdarsteller jedoch auf keinen Fall. Man kann ihr alles Mögliche nachsagen, unserer Claudia, aber dumm war sie nicht. In den Besitz eines möglicherweise fatalen Beweises für einen Seitensprung zu gelangen, darauf kam es ihr in erster Linie an. Im Allgemeinen bevorzugte sie verheiratete Herren.”
„Aber Sie haben die Bänder gesehen, oder?”
„Nein, doch gehört habe ich davon, bis zum Erbrechen. Wirklich bedauerlich, dass Sie das Pech hatten, an die Dinger zu geraten. Ich hatte gehofft, es würde Ihnen erspart bleiben. Nach meiner Auffassung waren sie versteckt. Wer das Versteck nicht sehr genau kennt, dachte ich, der findet sie auch nicht.”
Rowena nickte und zog an ihrer Zigarette. „Sie hat es besonders clever angestellt, indem sie die Kassetten offen in ihre Videosammlung einreihte. Ich bin durch Zufall darauf gestoßen, und als ich sah, was auf den Bändern war, habe ich sie mir unverzüglich vom Hals geschafft. Wieso hat sie Ihnen denn davon erzählt?” Die Antwort war ihr von vornherein klar. Wie immer brauchte Claudia jemanden, vor dem sie sich darstellen konnte. Als Beichtvater war Ian geradezu ideal. Jemand wie er nahm ein ihm einmal anvertrautes Geheimnis wahrscheinlich mit ins Grab.
„Ich nehme an, Sie wissen, dass Ihre Schwester sich gern ihrer Heldentaten rühmte. Nichts machte ihr – ich zitiere – Spaß, wenn sie nicht damit angeben konnte, und zwar in aller Ausführlichkeit. Dass ich auf ihre Ausführungen nicht reagierte und sie auch nicht kommentierte, muss sie wohl als Interesse missverstanden haben.”
Wieder nickte Rowena. Gut möglich, dass Claudia diesen Fehler begangen hatte. Ians undurchschaubare Art konnte einen weiß Gott täuschen.
„Sie pflegte mich gern mit ihren Schwindelgeschichten zu ergötzen und benutzte mich als Resonanzboden. Oder, genauer gesagt, als unfreiwilliges Publikum. Für Sie muss es furchtbar gewesen sein”, konstatierte er mitfühlend.
„Es war gewiss nicht die schönste Erfahrung meines Lebens.”
„Das kann ich mir gut vorstellen. Eigentlich interessant, denn obwohl Claudia ansonsten technologische Neuerungen mied wie der Teufel das Weihwasser – die neue computergesteuerte Kasse beispielsweise war ihr so fremd, dass sie das Ding gar nicht erst anfasste –, benahm sie sich wie ein Kind mit einem tollen neuen Spielzeug, als sie den ersten Camcorder bekam. Das war, Augenblick … vor sechs oder sieben Jahren. Nach einigem Hin und Her hatte sie die Bedienung relativ schnell heraus. Danach wurde sie zur regelrechten Spezialistin und rüstete auf ein neues Gerät um, sobald eine Neuerung oder Verbesserung auf den Markt kam. Die erste Kamera schenkte sie Philippe, wenn ich mich recht erinnere, die zweite bekam Jill. Nun, hoffen wir, dass Ihnen nicht noch mehr von Claudias Gespielen über den Weg laufen. Die Videos selbst sind Sie ja los, das wäre damit erledigt. Jetzt entspannen Sie sich und rauchen Sie Ihre Zigarette zu Ende!” Er drückte seine eigene aus und erhob sich. „Ich sehe mich ein wenig um. Mal schauen, ob die Mittagsgäste alle weg sind.”
„Bei Gelegenheit würde ich dies Gespräch gern fortsetzen.”
„Wozu, Rowena? Was soll dabei herauskommen? Vermutlich ist Ihnen doch das Schlimmste über Ihre Schwester ohnehin bekannt!”
„Offenbar nicht, wie sich jetzt herausstellt. Aber Sie und Claudia waren immerhin befreundet.”
„Ach, liebe Rowena!” Anscheinend amüsierte ihn diese Annahme. „
Befreundet
war Claudia mit niemandem! Das müssten Sie doch am besten wissen!”
„Wie können Sie einmal so liebevoll, dann wieder so verächtlich von ihr sprechen, und beides fast in einem Atemzug? Ich finde das sehr verwirrend.”
„Das bedaure ich”, entgegnete er, wobei er sich wieder hinter jener förmlichen Steifheit verschanzte – eine Haltung, die er nach Rowenas Einschätzung immer dann annahm, wenn er sich aufregte oder ärgerte. „Im Umgang mit Ihrer Schwester meinen Gleichmut zu bewahren,
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