Abschied aus deinem Schatten
Angelegenheiten, zu entrümpeln.
Inzwischen konzentrierte Rowena sich schon längst nicht mehr auf die beiden Akteure der Darbietung, sondern auf deren Umgebung, auf die Einzelheiten des Schlafzimmers, auf die eigentliche Atmosphäre der Begegnung. Es trieb sie fast zum Wahnsinn, doch die Ungereimtheit an der Aufnahme wollte ihr nicht auffallen. Irgendwo aber war sie. Rowena war davon überzeugt. Sie erkannte sie nur nicht.
Während sie das Band zum zweiten Mal durchlaufen ließ, schlief sie auf der Couch ein. Mehr als drei Stunden später wachte sie auf, als ein fröhliches, unerträglich munteres Moderatorenpärchen, zum Glück bei abgeschaltetem Ton, das Frühstücksfernsehen präsentierte. Rowena fischte die Fernbedienung aus dem Durcheinander aus Sofakissen, schaltete den Fernseher ab und stand auf, um den Tag zu beginnen.
Sie deaktivierte die Alarmanlage, hob die
Times
von der Matte vor der Haustür auf und trat, nachdem sie die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, noch in Pyjama und Slippern hinaus in den Garten, um die Blumen zu gießen. Da an diesem Tag mit dem Gärtner und seinen Mitarbeitern nicht zu rechnen war, stellte sie den Rasensprenger selbst ein, damit das Grün gründlich gewässert wurde. Eine ganze Weile schaute sie wie gebannt den silbrig perlenden Bögen zu, die der Sprenger durch die Morgenkühle hin und her schleuderte.
Sie hatte noch genügend Zeit, das Video erneut zu sichten, bevor sie schließlich auf dem Weg zum Wagen den Rasensprenger abschaltete. Als sie den Zündschlüssel ins Schloss steckte, flackerte erneut jenes bruchstückhafte, lästige Bildfragment aus der Vergangenheit vor ihrem geistigen Auge auf, verschloss sich jedoch zu ihrem Verdruss einer genaueren Betrachtung, weil es gleich wieder erlosch. Plötzlich aber, während der Motor nahezu unhörbar im Leerlauf schnurrte, fiel ihr etwas ganz anderes mit absoluter Klarheit ein: eine Auseinandersetzung, deren Ohrenzeuge sie als damals fast Fünfjährige geworden war.
Sie sah sich, wie sie im Esszimmer kauerte, direkt hinter den holzverkleideten Schiebetüren versteckt, die einst das Wohnzimmer vom Esszimmer getrennt hatten. Cary war in der Schule. Die Haushälterin hatte Claudia nach oben getragen, um ihr die Windeln zu wechseln. Und im Wohnzimmer unterhielten sich Rowenas Mutter und die Großmutter. Ursprünglich wollte Rowena blitzartig aus ihrem Versteck hinter der Tür hervorspringen und auf ihre Oma zurennen, die dann, die Hand auf die Brust gepresst, wie immer einen Laut der Überraschung ausstoßen und beteuern würde, ihre Enkelin habe ihr einen Riesenschreck eingejagt. Daraufhin öffnete sie dann stets ihre voluminöse Handtasche, die innen nach Chiclet-Kaubonbons und Omas Shalimar-Parfüm roch, und zauberte eine Tüte Bonbons hervor für Rowena, die als Gegenleistung die Großmutter „tüchtig drücken” musste.
Doch gerade als Rowena durch den Türrahmen stürmen wollte, hörte sie ihre Großmutter sagen: „Das ist kein bisschen komisch, Jeanne!”, und angesichts des scharfen Tons hielt sie es für klüger, in ihrem Versteck zu verharren. Mitunter, wenn ihre Mutter sich über sie ärgerte, klang sie genauso wie die Großmutter damals. Dann schüttelte sie Rowena und sagte, sie habe ‚Ohren wie Rhabarberblätter‘. Rowena verstand dies zwar nicht, doch da sie nun niemanden gegen sich aufbringen wollte, wagte sie sich nicht hervor, sondern wartete lieber auf die Gelegenheit, doch noch hervorzuspringen und ihre Oma erschrecken zu können.
In der Erinnerung spürte sie noch die Brise, die seinerzeit durch die Zimmer wehte; aus der Küche drang ihr der Duft von Speisen in die Nase, und dicht an den Holzfußboden gekauert bemerkte sie, dass jeder Parkettstreifen eine andere Maserung aufwies. Wie bekam man das bloß hin, damit ein Fußboden am Ende so aussah? Ihr Daddy, der konnte es bestimmt erklären; den musste sie fragen, wenn er später nach Hause kam. Daddy wusste auf alles eine Antwort.
„Meine Güte, Mutter! Es ist doch nur ein Glas Wein! Du hörst dich an, als würde ich mir Heroin spritzen!”
„Du wirst ja wohl wissen, dass der Alkohol dir direkt in die Milch geht!”
„Wo hast du denn diesen Blödsinn her?” Ihre Mama stieß ein Lachen aus, in Rowenas Ohren ein Geräusch wie berstendes Glas, bei dem ihr stets, wenn sie es hörte, angst und bange wurde. Und seit der Geburt ihres Schwesterchens hatte sie es ziemlich häufig vernommen. „Während der gesamten Schwangerschaft habe ich mir Abend
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