Abschied aus deinem Schatten
bisschen Kraft auf, das sie noch besaß, doch es gelang ihr, die Beine so zu bewegen, dass sie nicht absackte, bis sie spürte, wie sich Marks Hand um die ihre schloss und sie aufwärts zog.
HALT DICH AN MEINER HAND FEST! WIR SIND FAST OBEN! NICHT LOSLASSEN! ICH BRINGE DICH RAUF!
Die Luft war weich und schmeckte süß, die Sonne trieb ihr die Kälte aus den Gliedern und lockerte die verkrampften Beine. Sie hätte gern die Augen geöffnet, doch es kostete übergroße Mühe. Und als sie sie endlich aufmachte, erschien ihr alles grotesk verzerrt, so, als ob sie nach wie vor versuchte, unter Wasser zu sehen. Sollte sie sich vielleicht aufsetzen? Doch als sie versuchte, den Kopf anzuheben, zuckte ein stechender Schmerz direkt von oben durch die Stirn quer durch den Schädel bis zum Hinterkopf. Sofort ließ sie jeden Gedanken an weitere Bewegungsversuche fahren. Ihr Körper war ein einziger, pulsierender Schmerz, ihr Mund derart ausgedörrt, dass sie nicht schlucken konnte.
Aus den Augenwinkeln, tief aufgewühlt von dem Anblick, sah sie Mark auf einem Stuhl neben dem Bett sitzen. Zerknautscht und unrasiert hockte er da, den linken Ellbogen auf das Nachtschränkchen gestützt, das Kinn in die linke Handfläche geschmiegt, mit der Rechten ihre Hand haltend. Sie versuchte zu sprechen, doch vergebens. Ihr war, als habe ihr jemand die Zunge am ausgetrockneten Gaumen festgeschweißt. So drückte sie nur ganz unmerklich Marks Hand.
Langsam richtete er sich auf und ließ den Kopf kreisen, um die Nackenmuskulatur zu lockern. Plötzlich zuckte er zusammen, fuhr aus dem Stuhl auf und beugte sich über das Bett. Sie drückte nochmals seine Hand und spürte, wie sie wieder in die Bewusstlosigkeit hinüberglitt.
25. KAPITEL
„R owena? Kommen Sie, wachen Sie auf! Zeit aufzuwachen!”
Auch wenn die Stimme einschmeichelnd sanft klang, war sie doch irritierend, denn sie wiederholte die Aufforderung immer und immer wieder. Rowena wäre es lieber gewesen, er wäre verstummt, der Klang dieser Stimme, damit sie selbst weiter in der schmerzlosen Stille bleiben konnte, tief da unten, wo es sich anfühlte wie auf dem Grunde einer sich drehenden Finsternis.
„Los, Rowena, aufwachen! Machen Sie die Augen auf! Sie hören mich doch, ich weiß es! Sie müssen jetzt aufwachen!”
Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als die klebrigen Saugarme des Schlummers abzuschütteln, sich zur Spitze der dunklen Spirale vorzukämpfen und die Augen zu öffnen.
„Brav! Und jetzt schön auflassen. Wir möchten doch, dass Sie uns noch ein Weilchen erhalten bleiben!”
Die melodiöse Stimme gehörte zu dem gutmütigen Gesicht einer Krankenschwester mittleren Alters, die geduldig neben dem Bett wartete. „Na, Sie haben doch wohl lange genug geschlafen, sollte man meinen”, sagte sie mit breitem Lächeln. „Wissen wir denn, wo wir sind, Schätzchen?”
Mit den Augen deutete Rowena an, dass sie es nicht wusste.
„Krankenhaus Norwalk. Erinnern Sie sich an den Unfall?”
Ein leichtes Kopfnicken.
„Schön! Wir befürchteten schon alle, Sie wollten gar nicht mehr aufwachen! Trockener Mund?”
Wieder ein sachtes Neigen des Kopfes.
Die Schwester goss ihr aus der Karaffe, die auf dem Bettschränkchen stand, ein Glas Wasser ein, steckte einen Strohhalm hinein und hielt diesen Rowena an die Lippen. „Trinken Sie einen Schluck! Dann geht’s Ihnen gleich besser.”
Dankbar saugte Rowena an dem Röhrchen, einmal, dann noch einmal, und schon fühlte sie sich wohler, als die Flüssigkeit, einem dünnen Rinnsal gleich, sich den Weg durch ihre staubtrockene Kehle bahnte. „Wo ist Mark?” flüsterte sie heiser. „War er nicht hier? Oder hab ich das geträumt?”
„Nein, nein, der ist schon hier. Ich hab ihn in die Cafeteria geschickt, er soll erst mal was essen. Musste ihn fast mit der Brechstange von dem Stuhl da hochstemmen. Sitzt Tag und Nacht da, der Arme, und hält Wache. Und Sie trinken jetzt noch ein wenig, dann messen wir Temperatur und Blutdruck, bevor der Doktor kommt.” Gekonnt führte sie die Kontrollen durch, zügig, aber sanft. „Böse Kopfschmerzen, was?”
Rowena nickte.
Beruhigend tätschelte die Schwester ihr den Arm. „Nach der Visite gebe ich Ihnen ein Schmerzmittel, also, noch ein paar Minuten durchhalten und wach bleiben, ja?”
Sie musste wohl doch wieder eingenickt sein, denn eine männliche Stimme schreckte sie auf. Als sie die Augen aufschlug, erblickte sie einen Mann, der eigentlich für einen Arzt viel zu jung
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