Abschied aus deinem Schatten
aufzubrechen.
So gingen die Wochen dahin, und ihr wurde zunehmend klarer, dass sie in der Bibliothek lediglich noch ihre Stunden absaß, bis Feierabend war und sie zum Restaurant gehen konnte. Mark hatte noch seine Witzchen darüber gemacht, doch allmählich kam sie sich wirklich wie die genannte Sybil mit zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten vor: Die eine war die Bibliothekarin, der Modemuffel im formlosen Öko-Outfit. Die andere trug unter den Designerkleidern Seidendessous und Strümpfe zu fünfzig Dollar das Paar und arbeitete im „Le Rendezvous”. Ihren Job in der Magnusson-Bibliothek musste sie schon allein deshalb aufgeben, weil die Tätigkeit im Restaurant ihr die einmalige Gelegenheit bot, zu glänzen wie nie zuvor in ihrem Leben.
Als es April wurde, hinkten die Renovierungsarbeiten weit hinter der Planung zurück. Für die Küche waren die falschen Schränke angeliefert worden. Die Rücksendung bedeutete eine Verzögerung, bis endlich die richtigen Teile eintrafen. Es stellte sich zudem heraus, dass das ausgesuchte Linoleum nicht mehr lieferbar war; Rowena musste also zum Fachmarkt zurück und einen Belag mit neuem Muster auswählen, der natürlich teuer war und nicht einmal das, wonach sie eigentlich gesucht hatte.
Und dann der Schutt und der Dreck! Dicke Schichten aus einer Mischung von Staub und Sägemehl, das beim Abschleifen der Fußbodendielen aufgewirbelt wurde, bedeckten jede Oberfläche. Abend für Abend musste Rowena, bevor ans Essen auch nur zu denken war, die Arbeitsplatten wischen, die Spüle reinigen und allerlei Unrat zusammenfegen – Schnipsel von Gipskartonplatten, Kabelfetzen, verbogene Nägel, Holspäne und sogar leere, von den Arbeitern achtlos zurückgelassene Pappschachteln, in denen sich der Mittagsimbiss befunden hatte. Der Bauschuttcontainer, der unübersehbar am Eingang der Garageneinfahrt stand, war auch noch nicht abgeholt worden, obwohl Reilly schon seit zwei Wochen versprach, den Abtransport zu veranlassen.
Als Ergebnis dieses heillosen Durcheinanders verfiel Rowena in eine mittlere Depression. Es half auch nichts, dass sie sich einredete, sie müsse Geduld haben. Jeden Abend heimzukommen und feststellen zu müssen, wie wenig sich getan hatte, bedrückte sie mehr, als ihr lieb war, und allmählich begann sie sich zu fragen, ob sie nicht möglicherweise den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte. Ihre Ersparnisse gingen für die Bauarbeiten drauf, die ein Vermögen kosteten und offenbar überhaupt kein Ende fanden. Das Geld aus Claudias Lebensversicherung war bislang nicht eingetroffen, und der Notar hatte ihr mitgeteilt, dass der Nachlass ihrer Schwester frühestens in sieben bis acht Monaten für die Testamentseröffnung geregelt sein werde.
Gegen Ende der zweiten Aprilwoche berichtete sie Penny während eines Telefongesprächs von ihrer misslichen Lage.
„Ich hab dir gleich gesagt, das ist eine Schnapsidee”, meinte die Freundin. „Aber nun musst du da durch, da nützt alles nichts. Ewig kann es ja nicht mehr dauern. Wahrscheinlich kommen die Arbeiter schneller voran, als du denkst.”
„Kann sein”, gab Rowena zu, enttäuscht von Pennys mangelndem Zuspruch. Früher hatte sie stets auf deren Unterstützung zählen können. „Ich glaube, ich mache für heute Schluss. Es ist spät, und ich bin völlig erledigt.”
„Du arbeitest zu viel”, warnte Penny mit tadelndem Unterton, als spräche eine frustrierte Mutter zu ihrem Kind. „Wenn du so weitermachst, bist du bald völlig ausgebrannt.”
„Ich bezweifle, dass es so weit kommt. Ich wäge nämlich meine Alternativen ab.”
„Und was bedeutet das? Willst du von der Bibliothek weg?”
„Nun ja, ich denke ernsthaft darüber nach.”
„Unternimm nichts, was du später bereust! Du siehst ja, deine Renovierungsarbeiten zeigen, wie sehr etwas danebengehen kann!”
„Sie gehen nicht daneben, Penny! Möglich, dass sie den größten Teil meines Erwachsenenlebens andauern, aber sie gehen doch nicht daneben! Es ist nun mal nicht ganz so einfach, wenn man nicht recht weiß, wo man hingehört. Und was die Arbeit anbelangt – ehrlich gesagt würde ich die Bibliothek nicht vermissen, höchstens dich und Mark. Das Restaurant macht mir nämlich viel Spaß. Jeder Abend ist wie eine Party, zu der ich mich extra herrichte und bei der ich neue Leute kennen lerne. Es ist lange her, dass ich mich richtig darauf gefreut habe, zur Arbeit gehen zu dürfen!”
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass du
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