Abschied aus deinem Schatten
treffen uns zum Lunch, oder wir gehen bummeln. Irgendwas.”
„Ich melde mich”, versprach Rowena. „Und vielen Dank für das Essen. Alles war ausgezeichnet.”
„Schön, prima! Vergiss aber nicht, mich anzurufen! Unbedingt! Okay?” Sie warf Rowena eine Kusshand zu, wirbelte auf einem Stilettoabsatz um die eigene Achse und begab sich wieder auf ihre Runde von Tisch zu Tisch.
„Deine Schwester”, hatte Marcia auf dem Weg zum Wagen gesagt, „ist entzückend! Und so attraktiv!”
Und nun, auf dem Fußboden des Ankleidezimmers, umgeben von Claudias Sachen, ließ Rowena ihren Tränen freien Lauf. Damals, an jenem Abend, hatte sie ihre Schwester rückhaltlos geliebt. Doch mit der Zeit hatte sich Claudia immer seltener so liebenswert und bezaubernd gezeigt. Was war bloß mit ihr geschehen? Oder war das alles nur Einbildung gewesen? Wie konnte sie sich derart wandeln, dass es ihr ein solches Vergnügen bereitete, die eigenen erotischen Abenteuer zu filmen? Wie kam es, dass sie sich so unaufhaltsam und unrettbar veränderte, bis von jener manchmal so entzückenden Claudia nichts mehr übrig geblieben war?
Vom CD-Spieler erklang Tschaikowskys Violinkonzert, gespielt von David Oistrakh. Gerade hatte Rowena es sich auf dem Sofa bequem gemacht, um zum zweiten Mal an diesem Abend die veranschlagten Kosten für die Restaurantterrasse durchzurechnen, als das Telefon läutete. Sie nahm den Hörer ab, wobei sie inständig hoffte, dass Penny nicht am anderen Ende sein würde.
Es war Kip. Er telefonierte von einem Münzfernsprecher aus und war genauso ungehalten wie seine Mutter, wenn auch erheblich vernünftiger. „Ist mir schnuppe, was die labert, Tante Ro! Ich nehme den Job! Ich brauche ihn doch!”
„Das weiß ich ja, und ich würde ihn dir auch von Herzen gönnen. Aber deine Mutter möchte nicht, dass du für mich arbeitest. Da sind mir die Hände gebunden.” Es tat ihr körperlich weh, dem Jungen absagen zu müssen. „So Leid es mir tut, Kip; ich wüsste nicht, was sich da noch machen ließe.”
„Und ich nehme ihn doch! Ich will den Job auf jeden Fall machen!” beharrte Kip.
„Beruhige dich, bitte. Lass uns vernünftig reden. Willst du allen Ernstes wegen dieser Sache einen Streit mit deiner Mutter vom Zaun brechen? Denn das wird meiner Ansicht nach dabei herauskommen.”
„Wenn’s nicht anders geht, jawohl! Ich sitze doch nicht den ganzen Sommer über blöd auf dem Hintern herum, wenn ich mir was nebenbei verdienen könnte. Mensch, Tante Ro! Im September werde ich siebzehn. Bald werde ich in die Oberstufe versetzt. Ich bin doch kein dummer Junge mehr, der sich von der Mutter vorschreiben lässt, was er zu tun und zu lassen hat! Ist ’ne glatte Beleidigung, so was! Als hätte ich Matsch in der Birne und könnte nicht bis zwei zählen! Ich will den Job!” Er zögerte einen Moment. „Klar, sicher, wenn du’s dir inzwischen anders überlegt hast, hab ich die Arschkarte gezogen.”
„Eins möchte ich gern wissen, Kip. Wie willst du das denn hinkriegen?”
„Pah, Kleinigkeit”, meinte er. Sein Ärger verrauchte. „Ich tu die nächsten zwei Wochen so, als würde ich mich immer noch bewerben. Dann erzähle ich Mom, ich hätte im Caldor Hotel oder im Grand Union ’nen Job ergattert. Ich hab ja mein eigenes Konto; Mom würde nie meine Lohnabrechnung sehen. Den Scheck mit dem Lohnbetrag zahle ich bei einem Bankautomaten ein. Kinderspiel, echt. Gib mir doch den Job! Bitte, Tante Ro!”
„Ich möchte ja gerne.” Rowena war hin- und hergerissen. „Aber was ist, wenn deine Mutter trotzdem irgendwie dahinter kommt? Dann wirft sie dir vor, du hättest sie hintergangen, und ich müsste mir anhören, ich hätte dich hinter ihrem Rücken aus lauter Infamie eingestellt.”
Nach kurzer Pause fragte er: „Infamie? Ist das was Schweinisches?”
Rowena lachte auf. „Nein, mein Junge, das bedeutet so viel wie gemein.”
„Krass, der Ausdruck! Infamie! Pass auf, Tante Ro, mit Mom komme ich schon klar! Okay? Hab keinen Plan, warum die so auf hundertachtzig ist. Wenn ich sie frage, was Sache ist, dann sagt sie, ich soll mir keinen Kopf machen, ich würde das sowieso nicht schnallen. Als hätte sie ’ne Pappnase vor sich, die nix rafft! Ihr habt doch wohl keinen Zoff, ihr beiden?”
„Ehrlich, Kip, ich weiß auch nicht, welche Laus deiner Mom über die Leber gelaufen ist. Mir sagt sie ja nicht, was sie auf dem Herzen hat.”
„Na, jedenfalls hackt sie seit Neuestem auf Onkel Mark rum. Die ganzen letzten
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