Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Vale Allen
Vom Netzwerk:
wieder herauswürgen musste. Sie dachte zurück an die letzten Wochen, als Mark seinen völlig ausgemergelten Freund in den Armen wiegte und ihm die Getränkedose hielt, damit Tim die Flüssigkeit durch einen Trinkhalm aufnehmen konnte. Von grässlichen Krämpfen geschüttelt, hatte Tim sich ständig entschuldigt, während Mark ihm gut zuredete. „Schon gut, Honey”, hatte er gesagt, „wird alles gut. Halb so schlimm. Alles in Ordnung.”
    „Tut mir Leid”, sagte sie und griff nach Messer und Gabel.
    Er schaute ihr ein Weilchen beim Essen zu, um dann ein vorsichtiges Friedensangebot vorzulegen. „Lecker, was?”
    Rowena lächelte. Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Schließlich bemerkte sie: „In letzter Zeit komme ich mir wie eine Schwindlerin vor.”
    „Und deswegen besinnst du dich auf deine Oma-Klamotten, richtig? Du versuchst, zu dir selbst zu finden.”
    „In diesen Uraltkleidern erkenne ich mich eben wieder.”
    „Weißt du, mein zauberhafter Chinchilla, sobald du dich nicht mehr als die Außenseiterin im Restaurant betrachtest, bist du auch keine mehr.”
    Verblüfft sah sie ihn an. „Woher wusstest du, dass ich mir genau so vorkomme?”
    „Ach, du liebe Güte! Ich kenne dich nun schon eine ganze Weile! Du bist in die Stöckelschuhe deiner Schwester geschlüpft, und wenn man wie du so viele Jahre solides Schuhwerk getragen hat, dann stakst man erst mal ziemlich unbeholfen einher.”
    „Sie sind ein sehr weiser Mann, Mark Daley!”
    „Keineswegs! Nur erfahren. Die Sache ist die: Wenn man in frühen Jahren erkennt, dass die Instinkte dem entgegen laufen, was als Konvention gilt, und wenn man begreift, dass man sich mächtig Schwierigkeiten einhandelt, wenn man den Instinkten trotzdem folgt, dann wird man furchtsam und bedrückt und schließlich gleichmütig. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht weiter von ganzem Herzen wünscht, man möge so sein wie jeder andere auch, weil das Leben dann so unendlich einfacher wäre. An dem, was man ist, lässt sich aber nichts ändern. Man kann versuchen, seine Neigungen geheim zu halten, doch verschwinden werden sie deshalb keineswegs. Und die Schuldkomplexe wird man dadurch ebenfalls nicht los, denn man ist eben
nicht
wie die anderen. Man kann und wird es niemals sein. Ein bisschen erträglicher wird es, wenn man Menschen um sich hat, mit denen man offen umgehen kann. Ich weiß, es fällt dir nicht leicht, dich jemandem anzuvertrauen. Zuweilen hat man das Gefühl, man sei es nicht wert, dass einem jemand zuhört. Manchmal, wie heute Abend zum Beispiel, komme ich hier herein und sehe auf Anhieb, wie du dich quälst, und dann denke ich: Los, raus damit, und ich versuche, dir zu helfen. Aber freiwillig läuft bei dir nichts. Man muss dir erst tüchtig auf die Sprünge helfen.”
    Vor ihrem geistigen Auge sah Rowena ihren Vater, wie er vor dem Friedhof in seinen Wagen stieg, davonfuhr und für immer aus ihrem Leben verschwand. Sie sah ihre Schwester an sich vorbeistolzieren, hörte ihren hämischen Kommentar: „Sogar deine Träume sind öde”, und da wusste sie, weshalb es ihr so schwer fiel, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Sie wusste aber auch, dass sie es zumindest versuchen musste. Daher berichtete sie Mark von jenem Tag, als sie aus der Schule nach Hause kam und Claudia beim Lesen des Tagebuchs überraschte.
    „Erwürgt hätte ich sie”, empörte er sich.
    „Von da an habe ich kein Tagebuch mehr geführt, weil es mir zu unsicher war. Ich will damit nur sagen, dass ich einsehe, wie Recht du hast. Doch ich reagiere in jeder Situation gleich, indem ich denke: Du stehst allein da, also sieh zu, wie du zurechtkommst. Gestern Abend habe ich dich nicht zu Hilfe gerufen, weil ich überhaupt nicht auf die Idee kam, an deine Tür zu klopfen.” Als er den Kopf schüttelte, fügte sie hinzu: „In Zukunft zeige ich mich etwas mitteilsamer. Versprochen.”
    „Mehr verlange ich auch nicht, Ro. Du weißt ja, ich helfe dir gern.”
    „Ich weiß.”
    „Könntest du bitte auch versuchen, nicht länger über deine Schwester nachzugrübeln? Das Leben geht weiter!”
    „Ich werde mir Mühe geben.” Doch kaum waren die Worte heraus, ging ihr schon wieder die Szene mit dem Totenbett durch den Kopf. Nach wie vor – und vielleicht würde das immer so sein – kam ihr die Flasche Chivas Regal nicht geheuer vor. Eines Tages, so sagte sie sich, wirst du herausfinden, was wirklich geschah. Irgendwie.
    Rowena konnte ihre Unruhe nicht abschütteln. Jedes Mal, wenn sie

Weitere Kostenlose Bücher