Abschied in Dunkelblau
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Während sie schlief, suchte ich nach Angaben zu ihrer Person. Schließlich fand ich die traditionelle Stahlkassette hinter den Büchern im Wohnzimmer. Sie ließ sich mit einer zurechtgebogenen Büroklammer spielend öffnen. Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Scheidungsurteil, Schlüssel zu einem Schließfach, verschiedene Familienangelegenheiten, Steuerbescheide. Ich breitete alles vor mir aus und machte mir Stück für Stück ein Bild ihrer augenblicklichen Lage. Bei ihrer Scheidung vor drei Jahren hatte sie eine Abfindung angenommen. Das Haus war ein Teil davon. Ihr Einkommen stammte aus einem Treuhandkonto einer Bank in Hartford, Connecticut, ein Familienvermögen, dessen Kapital sie nicht antasten durfte und aus dem sie monatlich etwas mehr als siebenhundert Dollar bezog. Ihr Mädchenname war Fairlea. Es gab einen älteren Bruder in New Haven. D. Harper Fairlea. Auf dem Tisch in der Diele lag ein dicker Stapel ungeöffneter Post. Ich ging sie durch und stellte fest, daß Leute jammerten, man möge ihre Rechnungen begleichen, und in dem Stapel fand ich auch ihre ungeöffneten Treuhandschecks für die Monate Mai, Juni und Juli. Ihr persönliches Scheckbuch lag in der obersten Schublade des Schreibtisches im Wohnzimmer, eines eingebauten Sekretärs. Sie hatte ihr Konto geraume Zeit nicht ausgeglichen, und ich schätzte, daß sie noch zweihundert Dollar Guthaben hatte.
Um halb zehn rief ich D. Harper Fairlea in New Haven an. Man sagte mir, er sei krank und könne nicht ans Telefon kommen. Ich bat darum, mit seiner Frau zu sprechen. Sie hatte eine weiche, angenehme Stimme.
»Mr. McGee, Lois hätte Ihnen bestimmt erzählen können, daß Harp vor einigen Monaten einen schweren Herzanfall gehabt hat. Er ist seit ein paar Wochen wieder zu Hause, aber es wird noch lange dauern. Ich habe eigentlich gedacht, es sei das Mindeste, daß sie einmal zu uns hoch kommt. Er ist ihr einziger Blutsverwandter, müssen Sie wissen. Und ich habe mich schon gefragt, warum wir nichts von ihr hören. Falls sie irgendwelche Sorgen hat und Hilfe braucht, können wir nur sagen, daß wir hoffen, daß die Dinge wieder zu ihren Gunsten geregelt werden. Wir können ihr zur Zeit wirklich auf keine Weise behilflich sein. Wir haben drei Kinder, die noch zur Schule gehen, Mr. McGee. Ich will Harp davon noch nicht einmal etwas sagen. Ich will nicht, daß er sich noch mehr aufregt. Ich habe immer wieder Anrufe von Lois erfunden, ihm erzählt, daß sie besorgt um ihn ist und daß es ihr gut geht.«
»In ein paar Tagen werde ich genauer Bescheid wissen, wie es ihr geht und was gemacht werden muß.«
»Ich war der Meinung, daß sie da unten ganz nette Freunde hatte.«
»In letzter Zeit nicht.«
»Was soll denn das heißen?«
»Ich glaube, sie hat ihre netten Freunde aufgegeben.«
»Versprechen Sie mir, daß sie mich anruft, sobald sie dazu fähig ist. Ich mache mir Sorgen um sie. Aber ich kann einfach gar nichts tun. Ich kann Harp jetzt nicht alleine lassen, und ich sehe einfach keine Möglichkeit, sie hier aufzunehmen.«
Von da also keine Hilfe. Sie schien sich nicht sonderlich darum zu kümmern, wer ich wohl war. Ich spürte, daß die beiden Schwägerinnen nicht allzu gut miteinander ausgekommen waren. Ich konnte also nicht damit rechnen, daß jemand kommen und mich ablösen würde. Ich saß vorläufig fest.
Ich machte mir ein Bett im Schlafzimmer neben dem ihren zurecht und ließ beide Türen offen. Mitten in der Nacht wurde ich davon geweckt, daß Glas zerbrach. Ich zog meine Hosen an und schaute nach. Ihr Bett war leer. Ihr Nachthemd und ihre Bettjacke lagen am Boden neben dem Bett, der Morgenmantel war zerrissen.
Ich fand sie im Küchenerker, wo sie mit den Flaschen herumhantierte. Ich schaltete das weiße Flutlicht an; sie stand nackt in einer Pfütze von Schnaps und Glassplittern und blinzelte in meine Richtung. Sie sah mich an, aber ich glaube nicht, daß sie mich erkannte. »Wo steckt Fancha?« schrie sie. »Wo ist diese Nutte? Ich kann sie singen hören.«
Sie war sehr gut gebaut, aber viel zu dünn. Ihre Knochen hoben sich scharf gegen ihre glatte Haut ab, die Rippen deutlich sichtbar. Mit Ausnahme ihrer mageren Hüften und Brüste war das ganze Fettgewebe weggezehrt, und ihr Bauch wies jene leichte Blähung auf, die auf Unterernährung hindeutet. Ich brachte sie da weg. Wie durch ein Wunder hatte sie sich die Füße nicht zerschnitten. Sie wand sich aber mit erstaunlicher Kraft, jammerte und versuchte, mich zu kratzen und
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