Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
Glücklicherweise ist der Mensch aber dasjenige lebendige Wesen, das spricht. Somit sind die in den Momenten solcher Konzentration gesprochenen Worte von besonderer Bedeutung. Es ist zudem unmittelbar evident, dass diese Worte von höchster Bedeutung sind, wenn sie in dem Bewusstsein gesprochen werden, das es die letzten Worte sind. Die Aufmerksamkeit, die letzten Worten berühmter Persönlichkeiten gewidmet wird, ist ein Indiz dafür. Man braucht da nur an Goethes ‘Mehr Licht!’ zu denken und an die Folgen dieser Worte, egal ob er sie nun gesprochen hat oder nicht.
Aber unter dem Gesichtspunkt einer philosophischen Fragestellung ist es unzureichend, sich mit den Äußerungen von besonderen Menschen begnügen zu wollen. Und dies nicht allein aus dem Grunde, da keine letzten Worte von berühmten Menschen überliefert sind (zumindest sind mir keine bekannt), die auf der Höhe von Geist und Körper gesprochen worden sind. Denn selbst wenn solche in höchster Ekstase gesprochenen Worte existierten, ja selbst, wenn man davon ausgeht (was man nicht kann), dass diese letzten Worte einer Berühmtheit unverfälscht wiedergegeben worden wären, so ist es doch sehr wahrscheinlich, dass ein Mensch, der in seinem Leben Ruhm erfahren hat, sie in dem Bewusstsein sprach, dass letzte Worte einen erheblichen Effekt auf die Interpretation seiner Biographie ausüben. Kurz, sie sind nicht rein, nicht unmittelbarer Ausdruck des von mir gesuchten besonderen Erlebnisses: denn es ist nicht auszuschließen, dass sie eine Funktion hinsichtlich des erhofften Nachruhmes haben sollen, dass sie die Funktion haben sollen, Sinn zu stiften, ‘eine Biographie rund zu machen’, wie es heißt. Sie besitzen also keinen oder nur einen geringen Aussagewert über den Sinn des Lebens überhaupt.
Wenn man also eine reine Antwort auf die Frage nach dem Sinn an sich sucht, kann man methodisch nicht anders vorgehen, als Exempel von ganz gewöhnlichen Menschen zu sammeln, von Menschen, die sich der Bedeutung ihrer letzten Worte für ihren Nachruhm nicht bewusst sind. Dies bedeutet natürlich auch, dass derjenige, dessen Äußerung ich sammeln will, von meiner Methode und meinem Ziel keine Kenntnis haben darf. Die letzten Worte müssen ja unmittelbarer Ausdruck der Konzentration von körperlicher Ekstase und Geist sein. Ansonsten sind sie wertlos. Zwischen den Hochpunkt der Konzentration und dem Aussprechen der letzten Worte darf sich also kein anderer Gedanke schieben, als: Jetzt ist es mit mir vorbei. Der Schock ist also wesentlich für das Gelingen meiner Methode.
Aus diesem Schock resultiert aufgrund der grundlegenden Sprachlichkeit die Aussagekraft im Hinblick auf meine Fragestellung. Natürlich kann man einwenden, dass die Voraussetzung, der Sinn des Lebens würde sich auf begrifflicher Ebene kundtun, methodisch unsauber ist. Dass ich bei aller Betonung der Leiblichkeit dennoch dem alten occidentalen Vorurteil des Vorranges der Ratio aufsitze. Dem lässt sich nur entgegnen, dass es vorurteilsfreie Wissenschaft nicht gibt, das man immer – um etwas zu erkennen – einen gewissen Standpunkt einnehmen muss – immer schon einnimmt –, von dem aus man sich den Phänomenen nähert. Wissenschaft ist nicht grundsätzlich vom Alltagsbewusstsein verschieden, es ist dessen Methodisierung, die Erkenntnisse erlaubt, die über Gemeinplätze hinausgehen.
Es kommt also nicht darauf an, frei von Vorurteilen zu sein, sondern sich freizumachen von den Urteilen, die dem Gang der Untersuchung nicht standhalten. Es gilt also eine vergleichende Analyse einer möglichst umfassenden Datenmenge anzustellen, um sich die Antwort (wenn es denn eine – oder mehrere, begrifflich oder nicht – auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gibt) nicht vom Vorurteil, sondern von den Phänomenen selbst geben zu lassen. Da eine solche Datenmenge natürlich nur annähernd erreicht werden kann, gilt es eine zumindest repräsentative Sammlung von letzten Worten anzulegen, um – wie ich denke – die Struktur hinter diesen Worten zu erkennen, und in dieser Struktur die Antwort. Mir ist bewusst, dass diese Aufgabe wohl möglicherweise zu groß für ein Menschenleben ist. Gleichwohl, ein Anfang muss gemacht werden, und eine Annäherung an die Wahrheit ist immer noch besser, als nicht auf dem Weg zur Wahrheit zu wandeln.
Die ihnen vorliegenden Aufzeichnungen sind das gewissenhafte, möglichst genaue Protokoll dieser Annäherung. Denn Wissenschaft ist nicht nur ein methodischer, sondern auch ein
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