Abschied von Chautauqua
ließ die Cheetos da, wo sie lagen, und stieg drüber weg.
«Es war jemand hier.» Ken deutete auf den Kaffee neben dem Aschenbecher.
«Ich hab leider keine Zeit», sagte der Mann und zog seine Brieftasche heraus. Er faltete zwei Zwanziger zusammen und klemmte sie zwischen die Tasten der Registrierkasse. Meg und ihre Mutter würden inzwischen irgendwo parken und sich fragen, was mit ihnen passiert war. Ken machte mit seinem Zwanziger dasselbe, weil es ihm vernünftig erschien, und folgte dem Mann nach draußen.
«Was war denn los?», fragte Lise.
«Das war ganz seltsam. Es war niemand da.»
«Niemand?»
«Der Laden war verlassen.»
«Vielleicht hat es einen Notfall gegeben», mutmaßte Arlene.
«Vielleicht mussten sie mit dem Abschleppwagen zu einem Unfall fahren», sagte Sam.
«Ich glaube kaum, dass sie an so einer Tankstelle einen Abschleppwagen haben, Kumpel», erwiderte Ken.
«Und wie hast du bezahlt?», fragte Lise.
«Ich hab einfach einen Zwanziger dagelassen.»
«Das ist gut.»
«Es war seltsam. Direkt neben der Kasse stand eine Tasse Kaffee, als hätte jemand daraus getrunken und wär dann einfach verschwunden.»
«Wahrscheinlich ist er bloß mal rausgegangen», sagte Lise, doch ihr fiel kein glaubhafter Grund ein. «Vielleicht hat er gekündigt.»
«Es ist ein Rätsel», sagte Ken.
Er startete den Wagen, drückte auf den Knopf, damit der Kurzstreckenzähler null anzeigte - gewöhnlich ein angenehmes Gefühl -, und bog auf die Straße. Er blickte zurück zur Tankstelle, in der Erwartung, dass sich etwas bewegte, dass er eine Uniform aufblitzen sah, einen verlegenen Jugendlichen, der hinter der Scheibenwischerflüssigkeit hervorschaute, doch da war nichts, bloß die Plakate im Schaufenster, das Schild an der Tür mit der Aufschrift GEÖFFNET.
All das kam so unerwartet, dass es das Putt-Putt und seinen Vater aus seinen Gedanken verdrängte und er hastig nach möglichen Erklärungen suchte, dem unheimlichen Gefühl nachjagte, allein dort drinnen zu sein, der ganze Laden für einen Augenblick sein Eigen. Als sie nach Mayville kamen und sich neben ihnen der See ausdehnte, versuchte Ken immer noch herauszufinden, was passiert war. Er musste nachdenken und schaute nicht hin, als Arlene ihn darauf aufmerksam machte, dass die Chautauqua Belle gerade ablegte.
Er glaubte zu wissen, woran es lag. Während er im Laden gewesen war, hatte er nicht die Versuchung verspürt, irgendetwas zu stehlen, obwohl die Gelegenheit - und das gemeinsame Wissen darum - zwischen ihm und dem Mann mit dem Hut geknistert hatte wie eine unter Spannung stehende Stromleitung. Nein, er wollte mehr als das: Er wollte seine Kameraausrüstung holen und den Laden Foto um Foto, Regal um Regal in all seiner offensichtlichen Fremdheit einfangen, während der Laden ihn noch nicht bemerkt hatte. Ihn überraschen, wie der Laden ihn überrascht hatte. Und obwohl der Gedanke und seine Ausführung zwei verschiedene Dinge waren, hatte Ken das Gefühl, als könnte er diese Empfänglichkeit jetzt, wo er sie gespürt hatte, beim nächsten Mal erkennen.
Endlich begriff er, wovon Morgan sprach. Das nächste Mal würde er bereit sein.
* 5
Lise wusste, dass Emily viel Wind um die Verspätung machen, dass sie auf dem staubigen Parkplatz auf sie warten und ihre Handtasche umklammern würde. Wo in aller Welt seid ihr gewesen?, würde sie fragen, als hätte sie ein großes Abenteuer verpasst. Dann würde Ken von dem rätselhaften Umstand erzählen, dass an der Tankstelle niemand war, und sie müssten es sich den Rest des Tages anhören, wie bei CNN, wo jede halbe Stunde dieselben Schlagzeilen gesendet werden.
Na, ist das nicht interessant, würde sie sagen.
Oder: Das ist ziemlich eigenartig, nicht wahr?
Oder: Das ist dort hoffentlich nicht üblich.
Oder später, wenn sie das wertvolle Stück einer weiteren Betrachtung unterzog: Das ist mir absolut rätselhaft, absolut rätselhaft.
Emily musste immer im Mittelpunkt stehen, selbst wenn sie mit der Sache nichts zu tun hatte. Zum Teil lag es daran, dass sie jetzt so einsam war, gestand Lise ein, doch sie war schon immer so, wenigstens wenn es um Ken ging.
Ken hatte Lise kurz erzählt, dass Sam seiner Mutter die Sache mit dem Job verraten hatte. Er wusste nicht, wie viel Emily wusste, aber bestimmt genug, und Lise konnte sehen, dass er Angst hatte, es seiner Mutter zu erzählen, wie ein
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